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Wegweiser Juf

Günter Kast, Donnerstag, 17. Dezember 2020

Juf im hintersten Averstal in Graubünden ist die höchstgelegene, ganzjährig bewohnte Siedlung der Alpen. Wer sich hier zu Skitouren aufmacht, trifft Menschen mit Ecken und Kanten, die vorleben, wie ein nachhaltiger Wintertourismus funktionieren kann.

Höchstes Dorf der Alpen! High Life! 2126 Meter über dem Meer! Das ist doch was! Das lässt sich doch vermarkten! Denkt man. Wollen die hier aber gar nicht. Die wollen vor allem ihre Ruhe haben. Deshalb wohnen sie ja hier und nicht woanders. Kurt Patzen, der Gemeindepräsident von Avers, hat auf die Frage, wie es sich am Ende der Welt lebe, einmal eine ziemlich elegante Antwort gegeben: Man müsse sich am Wendeplatz für den Postbus in Juf nur umdrehen – dann sei das der Anfang der Welt.


Winter am Wendehammer

An diesem Wendeplatz stehen wir jetzt und ziehen die Felle auf. Zum Piz Piot wollen wir, gut 3000 Meter hoch. Also keine grosse Sache, wenn man schon in der Beletage startet. Die Berge hier sehen aus wie mit frischem Rahm übergossen. Kein Grün stört das makellose Weiss. Baumfreie Zone. Weite, offene Hänge, wie gemacht für Skitouren. Vor allem dann, wenn es frisch geschneit hat. So wie jetzt. Unser Bergführer Tobi Bach von der Schweizer Bergschule Berg+Tal kommt beim Spuren im knietiefen Pulver ganz schön ins Schwitzen.

Tobi ist Kölner, fährt aber schon seit einem Vierteljahrhundert mit seiner Familie regelmässig ins Averstal und kennt hier jeden Skitourenberg. Am Ostersonntag ist er jedoch mit dem Pfarrer zum Frühschoppen verabredet. Und zwar immer. Da kann der Powder noch so stieben, an diesem Tag bleiben die Latten im Keller. Statt Kölsch trinkt Tobi dann eine Stange Bier vom Fass, und mit seiner rheinischen Frohnatur haben sich die manchmal etwas muffigen Bergler längst arrangiert.


Nach drei Stunden stehen wir am Gipfelkamm des Piz Piot, blicken nach Süden ins Bergell, zum Monte Disgrazia und zum Piz Badile mit seiner bei Kletterern berühmten Kante. Das Schönste aber: Wir sind vollkommen allein hier, niemand macht uns den unverspurten Schnee streitig. Nicht einmal die zotteligen Galloway-Rinder, denn die bleiben im Winter im Stall, an dessen Wand noch Ziegel aus getrocknetem Schafmist lagern, wie sie früher zum Heizen gebraucht wurden.

Nach der Abfahrt kehren wir in der Pension Edelweiss in Juf ein, der einzigen Herberge des 20-Seelen-Nests. Nicole Hasler führt das Hotel und die Ferienwohnungen gemeinsam mit ihren Eltern. Sie hat in guten Hotels in ganz Europa gearbeitet, die Welt erkundet. Und ist am Ende doch zurückgekehrt ins Tal. Leicht fiel die Entscheidung nicht. Natürlich, Skitouren boomen, auch im Winter kommen jetzt regelmässig Gäste, es hat sich ein sanfter, nachhaltiger Tourismus entwickelt.

Aber mickrige 20 Einwohner in Juf, 170 im ganzen Tal? Kein Arzt, keine Apotheke, kein Supermarkt, kein Kino, lediglich ein Krämerladen in Cresta. Der letzte Postbus fährt kurz vor 20 Uhr und der Fahrer hält schon mal für einen Fotostopp an, wenn er am Hang gegenüber Steinböcke entdeckt. Schön für die Touristen, aber blöd, wenn man kein Auto hat und mit Freunden verabredet ist.


Jenseits der Baumgrenze

Anderntags geht’s auf den Piz Surparé, doch für die Abfahrt wählen wir diesmal die schattige und damit pulvrige «Backside» – 1300 Höhenmeter Spass pur, bis wir in Bivio an der Strasse zum Julierpass herauskommen. Von hier aus wollen wir mit Liftunterstützung nach Juf zurückkehren. Bivio ist nun wahrlich nicht das Mallorca der Alpen, aber dennoch ist hier deutlich mehr los als im Averstal. Uns wird mal wieder bewusst, wie einsam wir dort drüben wohnen. 20 Einwohner! Was viele nicht wissen: Das war nicht immer so.

Um 1900 gab es zwei grosse Hotels in Cresta. Deutsche und vor allem Briten kamen in die Sommerfrische und blieben oft fünf Wochen am Stück. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es bergab, bis 1968 Investoren grosse Pläne für den Winter auspackten und am Tscheischhorn einen ersten Lift bauten. Doch der Gemeinderat war gegen den grossen Wurf. Nur ein weiterer kurzer Bügellift kam hinzu. So ist es bis heute geblieben. In Zeiten des Klimawandels muss das nicht schlecht sein. Obwohl die Einheimischen hier die Letzten sind, die die Erderwärmung zu spüren bekommen werden. Unten im Tal, an der Via-Mala-Schlucht, sagen sie spöttisch, in Juf herrsche neun Monate Winter und drei Monate sei es kalt.

Willi Schmidt lacht, wenn er solche Sätze hört. Der Hesse ist ein Altlinker, lebte in Berlin, in Zürich, als Alphirte in den Schweizer Bergen. An den Wochenenden fuhr er ins Averstal – der Skitouren wegen, der Ruhe wegen. Als 2011 das Angebot kam, die Leitung des Genossenschaftshotels Bergalga zu übernehmen, wenige Kilometer unterhalb von Juf, sagte er zu: «Machen wir noch mal was Neues.» 2017 warf er dann aber doch hin. Die Einsamkeit und die Dunkelheit schlugen ihm zu sehr aufs Gemüt. Im Mai, also noch lange vor der Schneeschmelze, flüchtete er über den San Bernardino ins nahe Tessin: «Da kannst du durch grüne Wälder wandern, wenn hier oben noch tiefster Winter ist.» Mit Kai Kieslich führt derzeit wieder ein Deutscher die Geschäfte im Bergalga. Der Deal ist klar: Franken gegen Kälte.

Das heisst allerdings nicht, dass das Averstal ein ausgesprochenes Schneeloch ist. Weder Nordstau-Lagen noch Genua-Tiefs dringen so richtig zum Hauptkamm vor. Manchmal ist die weisse Pracht deshalb Mangelware. Oder sie fällt dann, wenn sie keiner braucht. Zum Beispiel im August. Der Trumpf von Juf ist aber seine Höhenlage. Hier fällt Niederschlag auch dann als Schnee, wenn es in tieferen Etagen längst regnet. Da fragt man sich schon, warum Menschen überhaupt dauerhaft hier leben wollen, am Ende dieses langgestreckten Hochtals, das von oben, bei unseren Skitouren, so verletzlich wirkt, ständig bedroht von massiven Lawinen. Die Antwort kennt Theres Menn-Buchli, die in Juf einen Hof bewirtschaftet. Ihr Schwiegervater war der Erste, der ab 1948 ganzjährig oben blieb.

Das Tal wurde zwar bereits im 13. Jahrhundert von Walsern besiedelt, aber aus Juf gingen sie spätestens im Advent weg, zogen in tiefere, wärmere Regionen. Als der Schwiegervater von Theres seine Entscheidung verkündete, sagten die anderen: «Du hast ja eine Meise – mit Frau und Kindern hier überwintern.» Aber er hatte das ewige Rauf und Runter eben satt. «Es war schon sehr hart früher», sagt Theres, «für Romantik blieb da kein Platz. Einmal rauschte eine Lawine ins Haus, erst im Wohnzimmer kam sie zum Stillstand. Mein Mann war zum Glück nebenan.» Nun ja, komfortabel ist es auch heute noch nicht. Muss ein Kind zum Arzt, geht ein halber Tag flöten. Man möchte Theres jetzt fragen, was sie von den vielen, so luxuriösen wie künstlichen Alp- und Hüttendörfern hält, die überall in den Alpen entstehen, aber sie ist schon wieder auf dem Sprung: «Muss in den Stall!»


Paradies für schräge Vögel

Und wir, wir müssen – dürfen – wieder auf Skitour. Obwohl uns schon klar ist, dass wir all die jungfräulichen Hänge in einer Woche gar nicht zerfahren können. Einmal erkunden wir das Bergalga-Tal und steigen auf einen Vorgipfel des Tscheischhorns. Dann nehmen wir von Pürt aus den Mittler Wissberg ins Visier. Beim Aufstieg fällt uns eine einsam am Hang klebende, einfache Hütte auf, neben der ein Indianer-Tipi steht. Wir fragen Tobi, wer dort wohnt. «Das ist der Martin», erklärt unser Bergführer. «Der sieht aus wie Rod Stewart und hat auch genau so eine Stimme. Martin arbeitet oben am Schlepplift. Jeden Morgen wandert er mit Tourenskiern von seiner Hütte zum Lift hinüber, am Abend wieder zurück. Und ansonsten hat er gern seine Ruhe.» Man merkt, dass Tobi für solche schrägen Vögel viel Sympathie hegt.

Er ist ja selbst ein bisschen anders als die anderen. Verdiente sein Geld eine Zeitlang mit Theaterspielen, ehe er Bergführer wurde und an der Sporthochschule Köln Sportpsychologie lehrte. War in der Kölner Hausbesetzer-Szene aktiv. Hat noch Ideale. Trägt nicht die neuste Funktionsbekleidung, sondern eine schon leicht ausgebleichte Burton-Snowboardhose und eine Schiebermütze dazu. Die wird er auch am Ostersonntag nicht abnehmen, wenn er mit dem Pfarrer ein Calanda-Bier zischt – hier, am Anfang der Welt.


Juf – Averstal / Graubünden

Anreise
Mit der Bahn via Chur bis Andeer nahe der Via-Mala-Schlucht, weiter mit dem Postbus bis Cresta oder Juf. Mit dem Auto bis Andeer und von dort auf kurviger Strecke, aber ohne steile Rampen ins Averstal. Schneeketten gehören dennoch in den Kofferraum.

Allgemeine Auskünfte
Die Gemeinde Avers umfasst acht Weiler in einem langgestreckten Hochtal, von Campsut (1‘670 m) bis Juf (2‘126 m), der höchstgelegenen, ganzjährig bewohnten Siedlung der Alpen. Der Hauptort der Gemeinde ist Avers-Cresta, auf einer Höhe von 1‘958 m gelegen. Info: Viamala Tourismus, www.viamala.ch, T: +41 81 6509030

Unterkünfte
Im oberen Averstal gibt es mehrere Herbergen für Skitouren- und Schneeschuhgeher, wie zum Beispiel: Pension Edelweiss, www.pension-edelweiss.ch, Genossenschaftshotel Bergalga, www.bergalga.ch, Berghotel Turtschi, www.berghotel-turtschi.ch. Eine Unterkunft mit Sauna gibt es im oberen Averstal bis dato noch nicht, WLAN ist jedoch Standard.

Essen
Die aufgeführten Hotels bieten allesamt F/HP an. Nach einer Tour im Bergalga-Tal kehrt man am besten in der Skihütte Cavetta nahe der Talstation des Schlepplifts ein (T: +41 81 6671284), nach Touren rund um Pürt (zum Beispiel zum Grosshorn) im Gasthaus Pürterhof.

Extratour
Nachtskifahren mit Raclette-Plausch in der Skihütte Cavetta, jeden Mittwoch von 19.15 bis 22.15 Uhr (nur bei guter Witterung). Auskunft ab 17 Uhr unter T: +41 81 6671178, www.skilifte-avers.ch

Bergführer
Berg+Tal AG, Alpinschule, D4 Platz 6, CH-6039 Root-Luzern, T: +41 41 4504425, www.bergundtal.ch. Die grösste Bergschule der Schweiz bietet im Averstal sowohl Skitourenkurse als auch mehrtägige Führungstouren an. Eine Skidurchquerung Graubündens, die im Averstal beginnt, kann ebenfalls gebucht werden.

Medien
Vital Eggenberger: «Skitouren Graubünden Süd. Avers / Surses / Albula / Silvretta / Engiadina / Val Müstair / Val Poschiavo / Val Bregaglia», SAC-Verlag Michael Pröttel: «Surselva», Rother Skitourenführer, Bergverlag Rother

Touren

Das Averstal setzt auf sanften Wintertourismus. Neben Schneeschuhgehern, Eiskletterern, Winterwanderern und Langläufern kommen vor allem Familien hierher, die die beiden Schlepplifte nutzen. Der Hit sind allerdings die vielen Skitouren-Optionen.

Grosshorn (2‘781 m)

  • leicht, 4 Std., 900 hm / 900 hm
  • Charakter: Einfache Skitour über weite Nordhänge, die den Pulverschnee lange konservieren. Vom Gipfel schöne Ausblicke auf die Südseite des Splügenpasses. Je nach Schneebeschaffenheit und Jahreszeit kann man über Rippen oder Rinnen abfahren. Im unteren Teil die Wildschutzzone beachten!
  • Ausgangspunkt / Endpunkt: Pürt (1‘921 m)
  • Route: Am Ortseingang, bei den ersten Häusern, führt ein Wirtschaftsweg hinunter zum Averser Rhein. Nach der kleinen Brücke (1‘880 m) auffellen und einen ersten, steilen Hang hinauf, der oberhalb eines lichten Zirbenwaldes bald flacher wird. In SW-Richtung über die weiten Böden der «Pürder Alpa» in einen Kessel, der links vom Grat des «Chlin Hüreli» begrenzt wird. Ab 2‘350 m wird das Gelände von zwei markanten Gräben durchzogen. Hier überschreitet man den ersten (nach rechts, W) und hält sich solange auf dem flachen Rücken aufwärts, bis man an einer geeigneten Stelle den zweiten Graben (wieder nach rechts, W) queren kann. Weiter zum steileren Nordrücken des Grosshorns, über den der Gipfelsteinmann (meist mit Ski) erreicht wird.
  • Einkehr: Gasthaus Pürterhof, urige «Beiz» in einem mehr als 300 Jahre alten Walserhaus

Tscheischhorn-Südgipfel (2‘981 m)

  • mittel, 4,5 Std., 1‘000 hm / 1‘000 hm
  • Charakter: Das «Tscheisch» lässt sich von Pürt oder von Juppa (Bergalgatal) aus besteigen. Der Anstieg von Juppa ist einfacher und weniger lawinengefährlich, dafür erreicht man auf dieser Route «nur» den Südgipfel. Wer einen echten Dreitausender im Tourenbuch will und trittsicher ist, kann jedoch dem Nordgrat zum höchsten Punkt (3‘019 m) folgen.
  • Ausgangspunkt / Endpunkt: Juppa (1‘980 m)
  • Route: Von Juppa auf einem Winterwanderweg ins Bergalga-Tal und später auf der Langlaufloipe über den Bach. Nach knapp zwei Kilometern verlässt man den Talgrund nach rechts (W). Über weite Osthänge zügig bergauf und auf einen breiten Bergrücken zuhalten, dem man in Richtung SW folgt. Wenn das Gelände flacher wird, hat man den unscheinbaren Gupf «Höjabüel» erreicht. Ist der Kamm vom Wind abgeblasen, muss man kurz die Skier ausziehen, oder aber etwas nach links ausweichen. Der Rücken wird bald steiler und man hält sich auf der im Anstiegssinn rechten Seite. Nach einem kurzen Steilaufschwung erreicht man den breiten Gipfelhang, den man nach rechts ansteigend überwindet. Am Kamm wendet man sich nach links und erreicht problemlos den Steinmann am Südgipfel.
  • Einkehr: Skihütte Cavetta

Piz Surparé (3‘078 m) – Bivio-Giro

  • mittel, 6-7 Std., 1‘200 hm / 2‘000 hm
  • Charakter: Grossartige Rundtour mit Liftunterstützung ins Nachbartal mit einem Dreitausender als Sahnehäubchen. Wenn die Bedingungen stimmen, ist die 1‘300-Höhenmeter-Abfahrt vom Gipfel des Piz Surparé nach Bivio ein Traum. Tolles Panorama mit der ganzen Bernina-Gruppe am Horizont. Toppt sogar die Madrisa-Runde im Prättigau!
  • Ausgangspunkt / Endpunkt: Juf (2‘126 m)
  • Route: Von Juf steigt man recht steil und einen Rücken ausnutzend gegen den Stallerberg auf. An einem Joch (2‘581 m) beginnt die Querung hinüber zum Bödeli (P. 2‘565). Relativ flach geht es weiter, links an der Felsstufe vorbei in die Mulde zu P. 2‘789. Man erreicht einen letzten Hang, der zuletzt ziemlich steil zu einem Joch unterhalb des Gipfels führt. Hier Skidepot und zu Fuss über leichtes Blockwerk zum Gipfel. Nach der Rückkehr zum Skidepot fährt man bei sicheren Verhältnissen über den etwa 35 Grad steilen NO-Hang ins Val Gronda und weiter bis Bivio ab. Hier nimmt man die beiden Skilifte (CHF 18.–), fährt in westlicher Richtung ein Stück ab und steigt über Sur Al Cant bis zur Fuorcla da la Valletta auf. Bei sicheren Verhältnissen kann man nun direkt in den Talgrund abfahren. Ansonsten steigt man 200 zusätzliche Höhenmeter zum Rücken «Uf da Flüe» auf und fährt von hier bis zum Stallerberg-Joch und weiter nach Juf ab.
  • Einkehr: Bivio, Pension Edelweiss in Juf

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