«Käpt´n Bruno» nimmt Kurs: Scharf am roten Blinklicht des Leuchtturms vorbei, peilt er ins wilde Weiss hinein. Dünen und Wellen wechseln sich ab, ruppig geht es über steife Wogen. Die vermeintliche Gischt, die der Wind vor sich hertreibt, entpuppt sich allerdings als kristallin und hart. Schnee statt Spritzwasser fegt ihm ins Gesicht. Das wiederum liegt daran, dass er natürlich kein Seebär oder Skipper ist, sondern Bergführer. So hat Bruno Honegger keine Decksplanken unter sich, sondern zwei breite Tourenski. Doch das rot-weiss-rot angepinselte Schifffahrtszeichen gibt es wirklich: Der Leuchtturm markiert die Oberalp-Passhöhe, die das Vorderrheintal in Graubünden vom Urserental im Nachbarkanton Uri trennt. Seit 2010 steht die Touristenattraktion der «Stiftung Leuchtturm Rheinquelle» auf 2056 Metern Höhe und erinnert daran, dass der Fluss hier seinen Ursprung hat. Rund 1230 Kilometer weiter nördlich mündet der Rhein dann in den Niederlanden in die Nordsee. Wer also eine Skitour am Oberalppass beginnt, kommt zwangsläufig an dem zehn Meter hohen Wahrzeichen vorbei. «Und dem Rhein, dem werden wir bei fast allen Touren in der Surselva wieder begegnen», sagt Bruno Honegger, als er seine Skibindung zuschnappen lässt und mit seiner Gruppe zur Alp Milez hinuntergleitet. Der 2614 Meter hohe Piz Cavradi ist das heutige Ziel, doch von dem Berg ist nichts zu sehen. Undurchdringlich sind die Wolkenschwaden, die im Val Maighels hängen. «Droben könnte es Sonne haben», so der Bergführer, und beginnt zuversichtlich mit dem Aufstieg. Die auffälligen Schneestangen weisen uns den Weg zur Camona da Maighels. Benötigen würde Bruno Honegger die Orientierungshilfe aber selbst in der Nebelsuppe nicht: Ein Vierteljahrhundert hat der End-60er mit seiner Frau Pia nämlich die Hütte auf 2314 Metern Höhe bewirtet und kennt das Gebiet wie seine Hosentasche. Zielstrebig steuert er also eine kleine Brücke an, die gerade noch aus einer Schneewehe ragt. Daneben ein kleines Rinnsal, das gleich wieder im Weiss verschwindet. «Man glaubt es kaum: Das ist der Rhein.» Offiziell entspringt der Vorderrhein dem Lai da Tuma (2344 m), einem Tümpel ein knappes Stündchen oberhalb des Val Maighels. «Jetzt im Winter plätschert kaum Wasser da heraus», sagt Bruno Honegger. Aber im Sommer, da speise ein Blockgletscher den Tomasee. Immerhin: So kann man hier mit einem einzigen Schritt den gesamten Rhein überschreiten.
Funkelnde Kristalle und weisses Gold
Nach anderthalb Stunden lichtet sich der Nebel. Als Erstes wird die flatternde Schweizer Flagge der Camona da Maighels sichtbar. Die Ankunft ist für Bruno Honegger wie ein Familientreffen: Die Hütte war 25 Jahre lang das Leben des Skilehrers aus Kloten – bis er 2019 das Haus in jüngere Hände gab. Seitdem managt seine Tochter Nora mit ihrem Partner Mauro Loretz die Hütte. Ski abstellen, Stiefel abfegen und hinein in die Hütte. Auch Mauros Bruder Rafael ist heute hier oben. In der Gaststube zeigt er auf den Inhalt einer Vitrine: Quarzsteine, Mineralien, Hämatite und andere Bergkristalle glitzern in der gläsernen Box. Bescheiden, aber auch ein wenig stolz, präsentiert Rafael Mauro die Fundstücke, die er selbst beim Mineraliensuchen in der nahen Cavradischlucht geborgen hat. «Wer ein Patent hat, der darf dort sogar sprengen, um Klüfte aufzubrechen», verrät der Hobby-Strahler und beweist, dass er offenbar ein feines Näschen für die Kristall-Verstecke hat. Im Winter allerdings geht der Skitouren-Fan lieber auf die Suche nach dem «weissen Gold».
Als die Sonnenstrahlen durch das Stubenfenster scheinen, ist der Zwischenstopp beendet: Zügig spurt Bruno Honegger durch die steile Südwestflanke des Piz Cavradi und findet problemlos die flachsten Passagen in «seinem» Hüttenhang. Ein paar rötliche Gneis-Scherben markieren schliesslich das Ende des technisch einfachen Aufstiegs. Der Gipfel ist zwar nicht der höchste im Rund, dennoch ist er eine perfekte Aussichtsplattform für die obere Surselva.
Skitourenparadies Surselva
Die Spuren von Skitourengehern locken in alle Himmelsrichtungen ins Gelände: links vor einem die Routen auf Pazolastock (2739 m) und den Badus (2928 m), die gerne vom Oberalppass angegangen werden. Rechts lässt das schroffe Felsdreieck des Piz Máler (2790 m) über dem grün schimmernden Lai da Curnera so gar nicht vermuten, dass ein fast gemächlicher – wenn auch langer – Anstieg über den Nordostrücken von Sedrun her möglich ist. Wer dabei die historisch anmutende Mini-Kabine der Tgom-Luftseilbahn benutzt, spart sich gleich 600 Höhenmeter auf den Parade-Aussichtsberg. Im Süden von Maighels werden versierte Tourengeher wiederum von den Steilabfahrten am Piz Nair (2764 m) angezogen. Der einfache Hatsch auf den Piz Alv (2769 m) dagegen bietet sich für Geniesser an. Ein weiteres Highlight ist ausserdem die rassige Abfahrt über den Nordostrücken des Piz Cavradi – ein Klassiker in der Surselva, der uns an diesem Tag aber leider verwehrt bleibt: «Schlechte Sicht in kritischen Steilpassagen», beurteilt Bruno Honegger kurzerhand. Ein anderes Mal also!
Apropos Schnee: Die Täler der Surselva sind eine wahre Wetterküche. Oberalppass, Sedrun oder Disentis liegen jeweils nur ein paar Kilometer auseinander. An dem einen Ort kann es schneien, an dem anderen die Sonne scheinen. Während es hier ein paar Dezimeter Neuschnee herunterhaut, bläst gleich hinterm nächsten Taleck am Vorderrhein der Wind. Die Hauptpässe sind dafür verantwortlich: Schnee aus Nordwesten rauscht über den Oberalppass, Schnee aus dem Süden kommt vom Lukmanierpass. Immerhin: So bekommt die Surselva reichlich Weiss ab. Und wegen seines Schneereichtums hat sich das Areal auch einen guten Namen als Location für Freetourer und Freeriderinnen gemacht. So zieht David Berther gerne mit den Tiefschnee-Fans los: Der junge Bergführer aus Segnas weiss, wo auch bei heikleren Verhältnissen noch sicheres Terrain jenseits der Pisten von Disentis und Sedrun zu finden ist. Dass er nicht nur mit dem Gelände, sondern auch mit den anderen Einheimischen zutiefst vertraut ist, zeigt sich bei der Auffahrt mit den Liften: In tiefem, kehligem Surselva-Rumantsch parliert er mit den Locals. Der Bergführer scheint wirklich jeden zu kennen, was darin liegen könnte, dass er im Sommer eine Schreinerei führt und viel herumkommt. Im Winter wiederum ist er in den Bergen der Surselva zu finden. Dabei führt er seine abfahrtsorientierten Gäste nicht nur zu den Klassikern im Val Segnas oder Val Acletta – ein Experte wie David Berther weiss, wo man unberührte Hänge findet. So lassen sich auch am Nachmittag im Val Pintga unterm La-Muotta-Rücken oder in der Val Gronda noch Firstlines finden.
Gleich hinterm Leuchtturm hinauf
Nach zwei Tagen mit ordentlich Neuschnee bewährt es sich auch bei der Standard-Tour vom Oberalppass zum Pazola-stock, einem Gebietskenner wie Bruno Honegger hinterherzulaufen. Gleich hinterm Leuchtturm zieht er erste Spuren durch das Val da Puozas. Vor einer riskanten steilen Hangquerung am Ostgrat checkt der Führer nochmal die Lage und entscheidet: «Die Flanke hat genug Sonne am Vortag und Frost in der Nacht bekommen, dass sie wieder stabil ist.» Bald ist der abgeblasene Rücken erreicht, der zum höchsten Punkt führt. Sehnsuchtsvoll schweift der Blick über die Tourenmöglichkeiten im Norden der oberen Surselva, die noch warten: eine Spritztour von Rueras durch das Val Milà zum 2546 Meter hohen Caschlè oder doch zum Oberalpstock auf 3323 Metern Höhe mit der langen Abfahrt ins Val Strem? Und natürlich gäbe es dann noch den «Etzli-Loop»: Über den Piz Giuv (3096 m) und seine spektakuläre nordseitige Abfahrt zur Etzlihütte und anderentags über den Chrüzlistock (2709 m) retour? Es gibt viel zu tun!
Nun aber erst mal talwärts: Bruno Honegger kennt selbstredend die direkte Linie ins Val Maighels hinunter. Unter geschickter Ausnützung des Geländes findet er einen Powder-Hang nach dem anderen in der Flanke, bis die Gruppe schliesslich durch ein Couloir in die Ebene nach Milez hinausschiesst. Schieben heisst es schliesslich im Tal Richtung Tschamut. Kurz vor dem Weiler ragt eine Brücke aus dem Schnee. Ohne sie wäre der Bach zu breit zum Queren. Der Bach? Es ist der junge Rhein, der mal wieder aus dem Schnee auftaucht.
An der gegenüberliegenden Herberge, dem Hotel Ducan, steht denn auch «last beerstop before heaven!». Zum Monsteiner Bier passen die Leckereien von Gastwirt Benni Schibli. Selbst ganze Gerichte werden mit dem Hopfensaft kreiert, wie Salate an hausgemachtem Bierdressing, Wätterguoge-Biergulasch vom heimischen Rind mit Thymian-Speck-Bohnen und Paprika-Spätzli. Und zum Dessert vielleicht eine gebrannte Malzcreme? Aber zuvor verdünnisieren wir uns in die Sauna. Auf eine Knautschzone eine Couchzone, das darf man sich gönnen.
Anreise
Anreise ab Zürich mit der Bahn (SBB) nach Chur. Von dort mit der Rhätischen Bahn (RhB) nach Disentis und Sedrun. Von Luzern geht es ebenfalls mit der SBB über Göschenen nach Andermatt. Dort Umstieg in die Matterhorn Gotthard Bahn (MGB) und über den Oberalppass nach Disentis und Sedrun.
Wohnen im Tal
Hotel Cresta
Via Alpsu 253, 7188 Sedrun, Tel. 081 949 12 25, hotelcresta.ch
Guesthouse & Hostel Nangijala
Via Alpsu 43, 7180 Disentis, Tel. 081 936 44 60, nangijala.ch
Essen im Tal
Hotel Posta
Via Alpsu 217, 7189 Tujetsch, Tel. 081 949 11 26, posta-rueras.ch
(Tipp: unbedingt nach den Fisch-Spezialitäten fragen!)
Mountain Lodge Sedrun
Via Alpsu 211, 7189 Tujetsch, Tel. 081 936 50 00, mt-lodge.com
(Tipp: die Pizzen sind phänomenal!)
Wohnen am Berg
Camona Maighels CAS (2310 m)
Val Maighels, bewirtet von Ende Dezember bis Anfang Mai, Tel. 81 949 15 51, maighelshuette.ch
Etzlihütte SAC (2051 m)
Hinteretzli, bewirtet von Anfang Februar bis Mitte April, Tel. 0820 22 88, etzlihuette.ch
Orientierung
Experten-Hilfe
- Bergführer David Berther, Segnas, Tel. 079 301 28 88, freeride-disentis.ch
- Bergführer Bruno Honegger, Sedrun, Tel. 079 349 14 50
Mehr Auskünfte
Sedrun Disentis Tourismus
Via Alpsu 64 a, 7188 Sedrun, Tel. 081 920 40 30, disentis-sedrun.ch
Tourenvorschläge
Piz Cavradi (2614 m)
- Start: Oberalppass (2040 m) Ziel: Tschamut (1643 m)
- Höhendifferenz: 800 Hm (Aufstieg) 1200 Hm (Abfahrt)
- Wegstrecke: 7 km (Aufstieg) 3,5 km (Abfahrt)
- Zeiten: 3 Std. (Aufstieg) 1 ½ Std. (Abfahrt)
- Expositionen: (SE,) W, SW (Aufstieg) N, NW (Abfahrt)
Anreise: Auf den Oberalppass gelangt man im Winter nur mit der Rhätischen Bahn – egal, ob von Andermatt oder Disentis her. Abreise: Auch in Tschamut hält die RhB
Vom Oberalppass gen SE (rechts von der Passstrasse) bis kurz vor die Hütten der Alp Milez (1858 m) abfahren. Auffellen und lange im Talboden der Val Maighels ansteigen. Der Hüttenzustieg ist mit Markierungsstangen versehen, die eine Orientierung auch bei Nebel erlauben. Zur Camona Maighels, 2 Std.
Durch die steile Südwest-Flanke (bei heikler Lawinenlage ggf. am S-Grat) auf den Piz Cavradi, 1 Std.
Wenn die Verhältnisse es erlauben, kann man den Nordrücken direkt vom Gipfel zum Vorderrhein hinunterfahren. Für die Einfahrt in den Downhill am Gipfel erst ein bisschen rechts halten, dann am Rücken. Ab ca. 1800 m mehr Nordwestwärts eine Durchfahrt hinunter zum Bach suchen. Schliesslich talauswärts (Nordost) bis Tschamut (kurzer Gegenanstieg), 1 ½ Std.
Pazolastock (2739 m)
- Start: Oberalppass (2040 m) Ziel: Tschamut (1643 m)
- Höhendifferenz: 700 Hm (Aufstieg) 1100 Hm (Abfahrt)
- Wegstrecke: 2,5 km (Aufstieg) 5,5 km (Abfahrt)
- Zeiten: 2 Std. (Aufstieg) 1 ½ Std. (Abfahrt)
- Expositionen: NE (Aufstieg) SE, E (Abfahrt)
Anreise: Auf den Oberalppass gelangt man im Winter nur mit der Rhätischen Bahn – egal, ob von Andermatt oder Disentis her. Abreise: Auch in Tschamut hält die RhB.
Vom Bahnhof Oberalppass zum Infozentrum Rheinquelle. Den Leuchtturm passierend, auf einen grossen gestuften Hang (unterhalb Las Puozas) zu, diesen nach Süden ansteigen. In der folgenden Mulde mehr rechts (Südwest), später wieder links (Süden) haltend, zwischen Felsen hindurch zum Ostgrat vom Pazolastock. Eine Schneelücke erlaubt eine steile Hangquerung (bisweilen heikel!) in die Südost-Flanke unter dem Gipfel. Zum Südrücken und über diesen auf den höchsten Punkt, 2 Std.
Für die Abfahrt zurück zum Sattel im Südrücken. Bei knapp 2700 m Südostwärts in die Hänge von Nurschalas Grondas einbiegen. Tiefer einem Rinnensystem folgend hinunter ins Val Maighels. Über Milez hinaus nach Tschamut (kurzer Gegenanstieg), 1 ½ Std.
Piz Máler (2790 m)
- Start: Luftseilbahn Tgom/Bergstation (1912 m) Ziel: Selva (1531 m)
- Höhendifferenz: 920 Hm (Aufstieg) 1350 Hm (Abfahrt)
- Wegstrecke: 5 km (Aufstieg) 4,5 km (Abfahrt)
- Zeiten: 3 ¼ Std. (Aufstieg) 1 ¼ Std. (Abfahrt)
- Expositionen: NE (Aufstieg) W, NW (Abfahrt)
Anreise: Mit der Rhätischen Bahn nach Sedrun. Mit dem Ortsbus nach Camischola (oder vom Bahnhof Rueras). Kurzer Fussweg zur Tgom-Seilbahn, die am Vortag reserviert werden muss (Tel. 081 920 40 30, Tourismusbüro Sedrun). Abreise: Ab Selva mit Ortsbus oder Taxi nach Sedrun oder Disentis (Bahnhöfe RhB).
Mit der Luftseilbahn nach Tgom. Immer nach Südwest auf dem Rücken bis zum Piz Nual (2386 m), gelegentlich abgeblasen. Hinter dem Höcker vom Garvers dil Tgom (2489 m) kurz rechts ca. 100 Hm hinunter (mit Fellen oder besser: Abfahren). Aus der Mulde heraus durch kupiertes Gelände (weiter Südwest) bis zum Skidepot (ca. 2700 m). Den luftigen Gipfelaufbau lieber zu Fuss angehen, 4 Std.
Abfahrt: Die hier beschriebene Variante führt über die Alp Mut und den Rücken zwischen Val Surpalits und Val Scadialas nach Selva (kurzer Gegenanstieg), 1 ¼ Std. Gängig ist auch die Abfahrt via Alp Nual und Denter Auas, schliesslich am Rhein hinaus nach Rueras, 1 ¼ Std.
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