Knautschzone
Zwischen Davos und Monstein liegen Welten. Sie zu erwandern bereichert und überrascht zugleich – so entpuppt sich der Bündner Gratgang auch als Kur- und Gourmettrek.
Knautschzone ist fürwahr keine Couchzone, auch wenn eine Seilbahnfahrt das Entrée macht. Wie ein mächtig zerknautschtes Zeitungspapier liegt das Land zu Füssen. Unendlich viele Gipfelspitzen und Talfalten drängen sich bis zum Horizont. Ein hinreissender Ausblick, auch wenn das Weissfluhjoch einer Baustelle gleicht. Aber vielleicht muss man erst das Übel bewusst bemerken, um das Schöne wertzuschätzen. So wie hier der Kontrast zwischen einem destruktiven und einem sanft erschlossenen Skigebiet, zwischen Parsenn und Schatzalp, zwischen Fast und Slow Mountain hoch über Davos. Das Panorama reicht bis zu Säntis und Altmann im äussersten Nordosten der Schweiz. Kundige erkennen den Tödi, höchster Gipfel der Glarner Alpen, und das Finsteraarhorn, höchster Viertausender der Berner Alpen, im Gipfelband. Im Süden lässt sich der Piz Bernina ausmachen, der höchste Gipfel Graubündens und einziger Viertausender der Ostalpen. Daneben zeigt sich am Horizont aber auch ein Berg, der dem Matterhorn unverschämt ähnlich sieht. Deshalb wird das Tinzenhorn gerne auch als das Matterhorn von Davos bezeichnet. In seine Richtung wollen wir wandern, von Davos bis Monstein – eine geniale Drei-Tage-Tour durch eine enorm vielfältige Landschaft. Darunter die Gesteinsschichten und -arten, die uns vor allem auf der letzten Etappe durch das Ducantal ihren Höhepunkt zeigen werden. Graubünden – Land der tausend Täler, wie es im SAC-Führer heisst. Der grösste Kanton trägt die meisten Täler und die geringste Bevölkerungsdichte. Während der Alpenentstehung hat hier die Kollision der Kontinentalplatten eine besonders starke Knautschzone hervorgebracht. Mehr als zwanzig verschiedene Gesteinsdecken übereinander geschoben, verfaltet, umkristallisiert. Was für Kräfte müssen da am Werk gewesen sein. «Diese Kollision spielte sich allerdings – und spielt sich noch heute! – im unglaublichen Zeitlupentempo von rund 2 cm pro Jahr ab, das ist etwa halb so schnell, wie deine Fingernägel wachsen», schreibt der Geologe Jürg Meyer.
Jedem sein Habitat
Die ersten paar Meter bewegen uns schwere Gedanken. Plattgewalzte Pisten, einzig um den Carvern Glücksgefühle und ein paar Wenigen Profit zu bescheren? Ist es das wert, dafür sämtliche Natur zu ersticken? Kaum über den Rücken des Weissfluhjochs gewandert, breitet sich das unberührte Fondei vor uns aus. Dank der Initiative seiner Einwohner konnte eine Ausbreitung des Davoser Skigebiets verhindert werden und das verträumte Hochtal gibt sich Bergbahnen und Rummel frei. Einst von Walsern besiedelt, erkennt man schon aus der Ferne die typischen archaischen Siedlungen, die sich über das offene Weideland verstreuen. «Auch ich bin ein Walser», sagt Klaus Schuster, den alle nur Klausi nennen. Hemds-
ärmelig steht er draussen auf der Terrasse seiner Berghütte am Strelapass – selbst bei bissiger Kälte, wo andere schon längst ihre Daunenjacken übergezogen haben. Kein zimperlicher Bursche, unkompliziert, offen und direkt – ein Mensch der Berge eben. Aus dem Kleinen Walsertal käme er und schmeisst Witze. Mit seiner humorvollen Art sorgt der Gastwirt aus Österreich für Wohlfühlatmosphäre. Ebenso seine Küche. Alles wird selbst gemacht, von der Bündner Gerstensuppe bis zum Teig für den knusprigen Flammkuchen. Erfinderisch muss man hier, weit abgelegen, ausserdem sein. So schmeckt Klausis Kuchen immer frisch, weil er ihn im Glas bäckt. «Noch heiss Deckel drauf, das ist wie einwecken», verrät er, «und hält ewig». Einst ging am Strelapass eine Seilbahn durch, doch die wurde abgebaut. «Jetzt müssen zwar alle mindestens eine Stunde zu mir wandern, doch ich habe viel zufriedenere Gäste», schmunzelt der Hüne mit den Kuhfellclogs. Rinder grasen friedlich rund um die schmucke Berghütte und pflegen damit eine harmonische Kulturlandschaft. Dass das Gelände im Winter als Skigebiet genutzt wird, bemerkt man kaum. So wie das früher mit allen Skigebieten war. Skigebiet Slow Mountain heisst es nun zwischen Schatzalp und Strelapass mit zwei Retro-Skiliften. Passend zur Nostalgie des ehemaligen Tuberkulose-Sanatoriums, das Thomas Mann in seinem «Zauberberg» literarisch in die Weltgeschichte katapultierte. Seit 1953/54 ist es ein Hotel, hier kann noch immer dem Flair der Belle Epoque nachgespürt werden. Wer Slow Mountain wirklich umsetzen möchte, übernachtet am Strelapass mit seinen unvergesslichen Sonnenuntergängen und auf der Schatzalp mit seinem Paradiesgarten. So hat man zudem genügend Zeit für das Alpinum, mit bis zu 26'000 Bovis-Einheiten eine echte Energie-Tankstelle. Das verdeutlicht auch die Vegetation. Auf dem fünf Hektar grossen Gartenareal gedeihen mehr als 5000 verschiedene Gebirgsspezies, darunter eine der grössten Edelweiss-Sammlungen der Welt. Eine Führung mit Gartendirektor Klaus Oetjen ist Gold wert. Schnell wird manch einem dabei klar, warum es mit der einen oder anderen Pflanze zu Hause traurig ausschaut. Nicht die Pflanzen müssen sich uns anpassen, sondern umgekehrt. «In unserem Garten», so Klaus Oetjen, «sucht sich jede Pflanze quasi ihren Platz selbst aus. Nur artgerechtes Gärtnern führt zu solchen Erfolgen. Viele staunen über die Schönheit von Pflanzen, wollen aber nicht in die Tiefe gehen. Vom botanischen Namen will man in der Regel nichts wissen, doch er verrät Wesentliches. Beispielsweise ihre Herkunft. Dabei ist nicht das Herkunftsland bedeutend, sondern das Verbreitungsgebiet. Und wie sieht das Habitat aus? Wachsen sie auf Stein, neben oder unter dem Stein? Werden die Grundlagen berücksichtigt, gibt es mit keiner Pflanze ein Problem.» Oetjen fesselt mit seinen Geschichten, seiner Passion, und man betrachtet Pflanzen plötzlich in einem ganz anderen Licht. Es schillert und leuchtet in allen Farben um einen herum. Vielfalt erzeugt Vielfalt. Ab Juni flaniere man hier durch Wolken von Schmetterlingen, begeistert sich der Gärtnermeister.
Immer auf der Höhe
Vielleicht will man aber auch Strecke machen und dabei Punkte sammeln. Aussichtsmeister nennen das dann die Touristiker und haben eine Web-App kreiert, bei der 100 Aussichtspunkte rund um Davos Klosters darauf warten, gescannt zu werden. 2022 läuft die Aktion wieder vom 1. Juni bis Mitte Oktober. Das Strelaseeli beim Strelapass gehört dazu. Ebenso das Jatzhorn. Es liegt auf der Gratroute, die uns vom Jakobshorn ins Sertigtal führt. Schnell ist man mit der Schatzalp-Bahn in Davos und per Bergbahn auf dem Jakobshorn. Jede Menge Mountainbiker haben meist das Gleiche vor. Doch man kann ihnen kurz nach der Bergstation ausweichen auf einen schmalen Kammpfad, der Stille und pures Panoramaglück schenkt. Wie ein Bindfaden fädelt er sich über dem Dischma- und dem Sertigtal zur Tällifurgga, wo man auf den Walserweg trifft. Uns gefällt das Kammwandern so gut, dass wir die Strecke bis zum Tällihorn verlängern. Jäh fällt von dort der Blick ins Sertig. Verwunschen liegt das Bilderbuchdörfli im giftgrünen Talboden vor der mächtigen Gebirgskulisse des Hoch Ducan. Wie aus der Zeit gefallen wirkt das Sertig-Dörfli. Alte, vergilbte Schwarzweissfotos, die im Walserhuus hängen, bestätigen, dass sich nichts verändert hat. Nur das Walserhuus selbst. Ein Bild zeigt es als Kurhaus. Die staubfreie, glasklare Bergluft und das gesunde Höhenklima hatten Anfang des 20. Jahrhunderts Lungenkranke zur Kur nach Davos gezogen. Unzählige Sanatorien entstanden, die in den 1940er-Jahren mit der Entwicklung neuer Medikamente überflüssig und im Laufe der Zeit zu Hotels umfunktioniert wurden. Dazu gehört neben Schatzalp und Walserhuus auch das Hotel Ducan in Monstein, stellen wir am Ende fest. Da haben wir uns ganz zufällig also einen regelrechten Kurhaus-Trek ausgedacht, der sich zugleich auch noch als Gourmet-Trek outet. Durch die Bank wird unser Gaumen verwöhnt. Im Walserhuus mit köstlichen Wildgerichten wie Hirschcarpaccio oder Bündner Spezialitäten wie Chrutchräpfli. Sie ähneln gefüllten Ravioli, werden in Nussbutter und mit Sertiger Alpengourmet-Chäs serviert. Wer die deftigen Klassiker Maluns, Capuns und Gerstensuppe einfach nur kosten möchte, bestellt sich eine Trilogie in verkraftbarer Grösse. So können noch die feinen Desserts Platz finden. Zur Verdauung ein Arvenlikör?
Schichtwechsel
Der Duft von Arven begleitet uns weiter ins Ducantal. Über dessen unterste Felsstufe stürzt sich ein imposanter Wasserfall. Dahinter dringt der Weg in eine karge Falte ein. Als würde man ins Erdinnere wandern, entblösst sie ein faszinierendes Mosaik erstarrter Gesteinsschichten aus der mittleren Trias-Zeit – jener Zeit vor rund 240 Millionen Jahren, als die Landschaft noch in einem Ozean lag. Aus Schutthalden ragen mächtige Kalk-, Mergel- und Dolomitbänke. Fachleute nennen sie Prosanto-Schichten. Bekannt für ihren Fossilienreichtum. So fanden Forscher der ETH Zürich im Ducantal unzählige Versteinerungen und Fragmente an gut erhaltenen Fischskeletten, an meeres- und landbewohnenden Sauriern (ausgestellt im Naturmuseum in Chur). Staunend erklimmen wir die Fanezfurgga. Die andere Seite wechselt wieder in liebliches Alpgelände über. Mittendrin liegt das herzige Dörfchen Monstein. Weltabgeschieden und doch nicht.
Von Häusträffel, Mungga und Wätterguoge
Längst ist die Monsteiner Brauerei ein beliebter Treffpunkt, insbesondere freitags, wenn zum «Abend der offenen Tür» geladen wird. Braumeister Sebastian Degen, vulgo Basti, nennt es scherzhaft «betreutes Trinken». Von der Pandemie liess man sich nicht ins Bockshorn jagen. Kurzerhand wurde der Brunnen vor der Haustür in einen Bierbrunnen umfunktioniert. Dort wird nun an der frischen Luft gezapft. Damit jeder die Vorschriften einhalten kann, entwickelte man gleich noch einen witzigen Bierkrug-Abstandhalter dazu. Der Erfinderreichtum passt zum Firmennamen. Die «BierVision Monstein AG», zur Jahrtausendwende gegründet, eröffnete im Juni 2001 als dazumal höchstgelegene Brauerei der Schweiz und erste Schaubrauerei des Kantons Graubünden. In der ehemaligen Dorfsennerei untergebracht, braut das Team unter Basti Bierspezialitäten mit so lustigen Namen wie Häusträffel (das Bündner Wort für Grashüpfer), Mungga (= Murmeltier) oder Wätterguoge (= Alpensalamander) Weizen. An der gegenüberliegenden Herberge, dem Hotel Ducan, steht denn auch «last beerstop before heaven!» Zum Monsteiner Bier passen die Leckereien von Gastwirt Benni Schibli. Selbst ganze Gerichte werden mit dem Hopfensaft kreiert, wie Salate an hausgemachtem Bierdressing, Wätterguoge-Biergulasch vom heimischen Rind mit Thymian-Speck-Bohnen und Paprika-Spätzli. Und zum Dessert vielleicht eine gebrannte Malzcreme? Aber zuvor verdünnisieren wir uns in die Sauna. Auf eine Knautschzone eine Couchzone, das darf man sich gönnen.
ROUTE
- Strela (2636 m)
Gehzeit: 2.30 Std.
Höhenunterschied: 300 Hm.
Anforderungen: T3+. Exponiert im Gipfelbereich, wo man hie und da auch die Hände zu Hilfe nehmen muss. Die Verlängerung (2 Std.) über die Chüpfenflue (2682 m) etwas anspruchsvoller, wenn man die Gratfelsen umgeht T4, ansonsten T5.
Ausgangs- und Endpunkt: Strelapass, 2350 m. Zustieg von der Bergstation Schatzalp (1.30 Std.) oder von der Parsenn- Mittelstation über den sehr schönen Panoramaweg (1 Std.) oder von der Bergstation Weissfluhjoch (0.45 Std.).
Unterkünfte: Berghütte Strelapass, Tel. 081 415 52 67, www.strelapass.ch.
Hotel Schatzalp, Tel. 081 415 51 51, www.schatzalp.ch.
Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 248T Prättigau.
Route: Vom Strelapass südwestlich auf Pfadspuren durch den Nordhang auf den Ostkamm der Strela (2636 m). Diesem entlang erst flach und grasig, dann steil durch Schrofen und Felsen auf den Gipfel. Der Abstieg erfolgt über den Südostkamm, wo man oberhalb des Strelasees (2404 m) auf den Höhenweg trifft, der nach links zurück zum Strelapass führt.
- Jakobshorn – Tällifurgga – Sertigtal/ Walserhuus
Gehzeit: 3.30 Std. (mit Abstecher Tällihorn 0.45 Std. zusätzlich)
Höhenunterschied: 120 Hm im Aufstieg, 840 Hm im Abstieg
Anforderungen: T3, am Jatzhorn etwas exponiert. Wenn der Kamm umgangen wird auf dem Höhenweg, dann T2.
Ausgangspunkt: Bergstation Jakobshorn (2590 m). Zufahrt von Davos-Platz.
Endpunkt/Unterkunft: Hotel Walserhuus im Sertigtal, Tel. 081 410 60 30, www.walserhuus.ch.
Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 248T Prättigau sowie Blatt 258T Bergün.
Route: Von der Bergstation ein paar Meter auf dem breiten Höhenweg, bis links der Gratpfad abzweigt. Über das Jatzhorn und das Witihüreli (2635 m) in die Tällifurgga (2568 m). Dort rechts westseitig ins Sertig Dörfli (1861 m) hinunter und dem Strässchen nach talein zur Häusergruppe Sand mit dem Walserhuus (1859 m).
- Walserhuus – Ducantal – Monstein
Gehzeit: 4.30 Std.
Höhenunterschied: 780 Hm im Aufstieg, 1000 Hm im Abstieg.
Anforderungen: T3, beliebte Route auch bei Mountainbikern.
Ausgangspunkt: Walserhuus im Sertigtal.
Endpunkt/Unterkunft: Hotel Ducan in Monstein, Tel. 081 401 11 13, www.hotel-ducan.ch.
Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 258T Bergün.
Route: Vom Walserhuus am Sertigbach entlang talein. Ein Abstecher zum Sertiger Wasserfall lohnt. Ansonsten geht es vorher links bergwärts in einer Umgehung der Felsstufe ins Ducantal. Anfangs ein enger Einschnitt, weitet es sich zunehmend. Im Talschluss westlich zur Fanezfurgga (2580 m) und jenseits steil hinunter. Über Fanezmeder und Oberalp nach Monstein (1626 m).
Botanischer Garten Alpinum Schatzalp
Historisches Alpinum: Führungen jeweils am Mittwoch 15.20 Uhr.
Guggenbachtal-Alpinum: Führungen jeweils am Dienstag 10.20 Uhr.
Küchenkräuter-Vernissage jeweils am Freitag 16 Uhr, mit Kräuterhäppchen und Apéro.
Infos: www.alpinum.ch.
Information
Davos Tourismus, Tel. 081 415 21 21, www.davos.ch.
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