Bisweilen gestaltet sich die Suche nach Pulverschnee
nicht gerade einfach. Selbst nicht für
François Epiney. Der drahtige Walliser ist im
Val d’Anniviers aufgewachsen und kennt als Bergführer
zwischen Illhorn und Zinalrothorn jeden Buckel der
Region wie seine Westentasche. Zu den Fältchen, die
die Witterung in den Jahrzehnten am Berg in seinem
sonnengegerbten Gesicht hinterlassen hat, gesellen
sich an diesem Morgen noch ein paar mehr. «Das war
bislang der schneeärmste Winter, seit ich mich erinnern
kann», meint er. Trotzdem ist François guter Dinge, als
er die Routen für den Tag vorstellt. «Wir werden schon
etwas finden», verspricht er. «Wäre doch gelacht!»
Minuten später schwebt die Gondelbahn von Grimentz
hinauf nach Bendolla. Ein Trip zwischen zwei Welten
beginnt: ein Mix aus Freeriden und Tourengehen. Mit
Liftfahrten und kurzen Aufstiegen im Tourengelände –
sowie langen, lohnenswerten Freeride-Abfahrten. HäuTEXT
& FOTOS CHRISTIAN PENNING
ser mit groben Holzbalken ducken sich an den sonnigen
Hang. Aus der Vogelperspektive werden sie schnell
kleiner. Eine Kulisse wie aus einem Heidi-Film. «Kein
Wunder», erzählt François mit «eine herrlische franzö-
sische Accent»: «Die Bergstrasse nach Grimentz wurde
erst in den 1950er-Jahren für den Bau des Stausees Lac
de Moiry angelegt.» Der Nachbarort Zinal, eine einstige
Maiensäss am Talschluss, ist gar erst seit 1957 mit dem
Auto erreichbar. Noch immer gleicht die Strasse von
Sierre herauf einem Labyrinth aus Kurven.
Nach Norden ist der
Kamm abgeblasen
und verharscht. Dafür
entschädigt nach Süden
der Blick auf die Felspyramide
der Dent
Blanche.
Bis zu den ersten Kurven auf Ski sind noch drei weitere
Lifte und ein kurzer Aufstieg zu Fuss nötig. Das erste
Couloir, das vom Kamm des Roc d’Orzival nach Norden
abfällt, sieht recht abgeblasen und verharscht aus.
Freund Luggi ist schon nahe daran, die Hoffnungen auf
Pulver an diesem Tag zu begraben. Doch zumindest das
Panorama nach Süden entschädigt. Wie eine felsige
Pyramide ragt der 4375 Meter hohe Gipfel der Dent
Blanche in den blauen Himmel, links dahinter spitzt die
Nordflanke des Matterhorns heraus. Luggi ist wieder
versöhnt mit der Welt. «Willkommen im Reich der
Viertausender», leitet François seine Gipfelschau ein.
«Dort im Nordosten: Jungfrau und Finsteraarhorn, dann
östlich das Bishorn, das Weisshorn, hinten der Dom.
Südlich das Zinalrothorn, das Obergabelhorn, die Dent
Blanche ...!» – «Hammer!», schwärmt Luggi. «Komm,
du wirst gleich noch mehr begeistert sein», schwört
François und stapft den Grat entlang. Gerade mal 100
Meter weiter öffnet sich nach einer steilen Rinne ein
weiterer Bergkessel – mit dick Schnee, unverspurt.
PULVER MIT VIERTAUSENDER-PANORAMA
«Du zuerst!» François lässt Luggi den Vortritt. Ein lauter
«Pooowder!»-Ruf und eine wirbelnde Schneefahne
begleiten seine ersten Schwünge. Der Pulverrausch ist
zwar vorbei, sobald er seine Line in den sonnigen Teil
des Hanges lenkt, doch dafür überzieht hier ein samtener
Firnteppich das kupierte Gelände.
Fürs Freetouring ist das Val d’Anniviers wie geschaffen.
«Alleine die Liftanlagen ermöglichen Abfahrten mit rund
1500 Metern Höhenunterschied», beschreibt François
beim folgenden Aufstieg die Möglichkeiten. «Kombiniert
mit ein paar Aufstiegen zwischen ein und zwei Stunden
summiert sich leicht noch deutlich mehr.» Für Luggi
sind Tourengehen und Freeriden Parallelwelten, die
sich perfekt ergänzen. «Da bin ich in meinem Element!»
Die gut erschlossenen Skigebiete von Grimentz, Zinal,
Vercorin und Saint-Luc, die unberührten hochalpinen
Gipfel ringsum machen das Val d’Anniviers zu einem
wahren Paradies fürs Freetouring. Aber längst nicht
zum einzigen. Auch Gebiete wie Andermatt, Chamonix,
Courmayeur, Gressoney oder Engelberg bieten grosses
Potenzial – wie eigentlich alle Skiregionen mit Liften
hinauf in weitläufiges, hochalpines Terrain.
Die Chancen auf unverspurte Hänge sind deutlich höher
als beim Freeriden in Liftnähe, die Abfahrten oft noch
spektakulärer. Die Lifte sparen Zeit und Kraft, so lassen
sich an einem Tag leicht doppelt oder dreimal so viele
Höhenmeter sammeln wie bei normalen Skitouren.
Nicht weniger schön als auf traditionellen Touren ist das
Panorama. Weg von den Liften, einmal übern Grat, und
schon findet man sich in unberührten Berglandschaften
wieder. «Allerdings sollte man beim Freetouring noch
sensibler sein als beim Freeriden, was die Lawinengefahr
betrifft», mahnt François. «Denn ausserhalb der
Skigebietsgrenzen erfolgen keine Lawinensprengungen,
und die meisten Hänge werden auch deutlich weniger
befahren, was das Risiko erhöht.»
SCHNEESTURM UND GLETSCHERWEIN
Der lange Skitag endet mit einem kurzen Aufstieg – von
der Bergstation des Schlepplifts Lona 2 über die Schulter
des Grimentzer Hausgipfels Becs de Bosson zur
gleichnamigen Hütte. Die letzten Tagesgäste brechen
gerade auf. Doch noch scheint die Sonne warm. Perfekt
für ein gemütliches Après! «Santé!», prostet François.
Und dann erzählt er mit Blick auf die Gletscher rund um
die Dent Blanche, wie das Val d’Anniviers zwei weitere
Welten vereint: das fast mediterrane Rhonetal und die
vergletscherten Gipfelregionen – beide fast unmittelbar
nebeneinander. Beide Sphären vereinigen sich im
Gletscherwein. «Den gibt es nicht zu kaufen. Auch nicht
hier auf der Hütte», verrät François. Seine Konsistenz
folgt einer altüberlieferten Tradition. Dazu wird der Wein
in alten Holzfässern nie ganz geleert und im Abstand
von Jahren mit neuem edlen Tropfen aufgefüllt. Im
Weinkeller des «Cave de la Bourgeoise de Grimentz»
lagert unter anderem das Lärchenholzfass «Tonneau
de l’Evéque». Die Basis seines Inhalts stammt aus dem
Jahr 1886.
Solche Spezialitäten kann Hüttenwirt Marcel von der
Cabane Becs de Bosson zwar nicht auftischen. Dafür
aber gibt’s ein Abendessen mitten im Schneesturm.
Plötzlich scheinen die Haufenwolken über den Berggipfeln
zu explodieren. Die Bergkulisse draussen vor
den grossen Panoramafenstern weicht einem dicken
Flockenwirbel. «Polenta mit Pulver», scherzt Luggi. «Die
perfekte Stärkung für morgen.» Während der Schwedenofen
warm und knackend vor sich hin bollert, wird
der Schneefall wieder schwächer, und die Dämmerung
senkt sich über das Hochtal am Lac de Lona.
Es liegt wohl eher an der flockig leichten Pulverauflage
als an der Polenta, dass uns das Aufstehen am nächsten
Morgen erstaunlich leicht fällt, obwohl es draussen
noch fast dunkel ist. Der Plan ist einfach zu verlockend:
rauf auf den Gipfelgrat am Becs de Bosson und die
erste Talabfahrt in Angriff nehmen, noch bevor die Lifte
starten. Während im Westen noch der Mond über dem
Mont Blanc steht, spurt Luggi voraus bergauf. Unsere
Rechnung geht auf. In weiten, staubenden Schwüngen
ziehen wir bei Sonnenaufgang den Gipfelhang des Becs
de Bosson hinab.
ZERKLÜFTETE GIPFEL UND STEILE COULOIRS
Wenig später haben wir mit einem breiten Grinsen die
ersten 1500 Höhenmeter abgehakt. Auf zu den nächsten
1700! In Grimentz wartet bereits Bixio, unser Guide für
den zweiten Tag. Sein Plan: Nochmals rauf zum Col des
Becs de Bosson und dann eine Tour auf den Gipfel des
Sasseneire. Mit einer Mischung aus Respekt und Vorfreude
auf die anspruchsvollen Couloirs vom Gipfelgrat
nähern sich Bixio und Luggi dem zerklüfteten Gipfelmassiv.
«Wir müssen uns beeilen», mahnt Bixio. «Wenn die
Flanke zu viel Sonne bekommt, wird es gefährlich.» Doch
zumindest bis auf einen Vorgipfel reicht es. In riesigen
Turns rauschen erst Luggi, dann Bixio die noch völlig unverspurten
Flanken hinab und weiter zum Lac de Moiry.
Nicht weniger perfekt ist auch der letzte Schwung,
der Einkehrschwung auf der Rückfahrt in Sierre. Das
Château de Villa ist bekannt für seine Raclette-Spezialitäten
mit erlesenen Käsesorten aus den Seitentälern
des Wallis. «Santé und merci für den grossartigen Tag»,
prostet Luggi unserem Guide Bixio mit einem Glas Haida
zu. Genau der passende Tropfen zur Tour. Die eher
seltene Rebsorte wächst im Wallis mehrheitlich auf über
1000 Metern Meereshöhe. Der Wein ist feinwürzig und
mit dem Weissen Traminer verwandt. Bodenständig und
gleichzeitig mit einer feinen, exquisiten Note – ganz wie
die Freetouring-Tage in Grimentz und Zinal.
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