Herr Amacher, wie war der
Sommer in der Eigernordwand?
Den ganzen Sommer war es zu
warm, es wird ja fast nicht mehr null
Grad kalt. Die Wand war komplett
aper, schwarz. Es gab einzelne Begehungen,
vor allem von guten Kletterern.
Den weniger guten hat man
abgeraten. Und wenn sie trotzdem
gegangen sind, sind sie meist am
nächsten Tag zurückgekehrt. Oder
sie haben sich durchs Stollenloch
in Sicherheit gebracht – wir hatten
noch keinen Todesfall dieses Jahr,
das ist schon speziell.
Standfest: «Man muss auch Nein sagen
können», sagt Kurt Amacher über
die Pflichten eines Rettungsleiters.
Nämlich dann, wenn es für die Retter
zu gefährlich wird.
Was unterscheidet den guten
vom schlechten Eigernordwand-
Aspiranten?
Wichtig ist nicht nur das Technische,
man muss auch körperlich fit
sein. Es sind ja doch immerhin 1800
Höhenmeter. Aber es gibt hier fast
Kurt Amacher war 18 Jahre lang Leiter der
Bergrettung Grindelwald und kennt jeden
Meter der Eigernordwand – obwohl er sie
selbst nie durchstiegen hat. Im Interview
auf dem Männlichen erzählt Amacher vom
Gefühl an der Longline, von Käsepaketen
und von Einsätzen, die er nie vergessen wird.
keine schlechten Alpinisten mehr.
Die Wand wird heute oft in einem
Tag gemacht. Das finde ich fast
schade, denn in der Eigernordwand
gehört ein Biwak dazu, und das ist
im Götterquergang. Aber heute geht
es natürlich um Speed.
Aber Geschwindigkeit ist doch auch
Sicherheit?
Das schon. Ueli Steck, der ja leider
umgekommen ist, habe ich zwei
Wochen nach seinem Rekord am
Eiger getroffen. Damals habe ich
ihm gesagt, dass ich vor seiner
Leistung den Hut ziehe, er für uns
aber leider nichts Gutes getan hat.
Denn zwei Tage später stand in der
Zeitung: Eigernordwand, 2 Stunden
28 Minuten. Und drei Tage später
hatten wir 18 Seilschaften in der
Wand. Das gab es noch nie. Gott sei
dank ist nichts passiert.
Als ein Michel Darbellay 1963 allein
durch die Wand ist, gab es da keine
Nachahmer?
Ich habe Michel selbst gut gekannt.
Damals hat niemand gesagt: Wenn
der Michel das kann, dann kann ich
das auch. Wir Grindelwalder gingen
bis 1976/77 überhaupt nie in diese
Wand. Keiner. Es hiess immer:
Da geht man nicht rein. Wenn etwas
passiert, müssten uns ja unsere
Kameraden retten. Erst um 1977/78
sind die Ersten gegangen. Und heute
geht praktisch jeder Bergführer durch.
Sie sind sie aber nie gegangen?
Nein, ich wollte 1978 mit einem Kollegen
gehen. Dann hat aber irgendetwas
im letzten Moment nicht ganz
gepasst. Wir haben verschoben,
nochmals verschoben, und dabei ist
es geblieben. Aber ich darf sagen:
Es gibt keinen Ort auf der Normalroute
der Eigernordwand, wo ich
nicht gewesen bin. Es war nicht immer
ganz schön, wenn ich dort war.
Aber das Rettungswesen ist wie eine
Waage: Es gibt die schweren Sachen,
und es gibt die schönen Sachen. Und
solange es sich die Waage hält, ist
Bergretter ein schöner Beruf.
«Im Einsatz hast du
einen Tunnelblick.
Man will ja helfen,
retten. Da sieht man
die Gefahren nicht
mehr.»
Was sind die schönen Sachen?
Natürlich die, wenn man Leute
gesund aus der Wand herausholt.
Bei unserer allerersten Longline-
Rettung haben wir zwei Holländer
da drüben aus dem Genferpfeiler
geholt. Einer war schwer verletzt
am Fuss. Wir haben uns mit der
Jelk-Stange in die Wand gezogen.
Als alle unten waren, hat das Wetter
richtig losgeschlagen. Hagel, Sturm,
ganz schlimm. Aber die beiden waren
im Spital. Am nächsten Tag stand
ein älteres Ehepaar aus Holland vor
meiner Tür. Die hatten sich erkundigt
und rausgefunden, dass total sieben
Personen am Einsatz beteiligt gewesen
waren. Sie hatten sieben gleich
grosse Pakete dabei. Ein Jahr später
ist auch der Bursche selbst kerngesund
bei mir zu Hause gestanden,
hat sich bedankt und gefreut, dass
er wieder in die Berge gehen kann.
Was war in den Paketen?
Zu Essen sicherlich! Käse? Ich weiss
es nicht mehr. Was ich sagen wollte:
Im Gegensatz zu den Holländern hört
man von vielen eigentlich gar nichts.
Warum ist das so? Aus Scham?
Ich weiss es nicht. Wir haben einmal
eine Engländerin am unteren Eigerjoch
aus einer Klemmspalte gerettet.
Sie war unangeseilt und ohne
Gurt. Ich habe ihren Arm angefasst,
der war eiseskalt. Ihren starren
Blick habe ich lange nicht vergessen
können. Ich wusste, da sind wir zu
spät. Ihre Temperatur war 20,5 Grad.
Wir haben eine Stunde reanimiert,
bis in Bern im Spital ein Platz war.
Später hat mich der Arzt vom Inselspital
angerufen und gesagt, dass
sie die Frau auf 32 Grad hätten. Ich
stand immer in Kontakt mit ihm, und
tatsächlich war nach sechs Monaten
wieder alles gut. Aber von dieser
Frau habe ich nie ein Wort gehört.
Das tut ein bisschen weh.
Wie viel von all den Einsätzen wird
man wieder los?
Normale Rettungen konnte ich in
der Regel schnell wegstecken. Aber
wenn Kinder beteiligt sind, das ist
furchtbar. Es passieren ja auch
Dinge auf einer Alp, Unfälle in der
Gletscherschlucht oder Lawinen. Wir
sind nicht nur am Eiger.
Welche Charaktereigenschaften
muss man als Bergretter haben?
Manchmal hätte man gerne den
Mumm, die Leute zu fragen, was mit
ihnen eigentlich falsch ist. Aber das
muss man wegstecken. Es ist nicht
unsere Aufgabe, ihnen zu sagen,
dass sie am falschen Ort sind und
mit ihrem Tun die Retter in Gefahr
gebracht haben. Man braucht einen
guten Hintergrund. Jemanden, der
dir hilft, wenn es schwierig wird.
Meine Tochter ist Psychologin, die
kann ich um Rat fragen.
«Wir Grindelwalder
gingen bis
1977 überhaupt
nie in diese Wand.
Es hiess immer:
Da geht man nicht
rein.»
Sie waren viele Jahre Leiter der
Grindelwalder Bergrettung. Welche
Verantwortung trägt man für seine
Kollegen?
Es ist enorm wichtig, auf seine
Kameraden zu schauen. Im Einsatz
hast du einen Tunnelblick. Man
will ja helfen, retten. Da sieht man
die Gefahren nicht mehr. Das ist
die grosse Aufgabe für den Chef:
alles versuchen, aber zuerst für
die eigene Sicherheit sorgen. Ich
möchte nicht zu einem nach Hause
gehen und sagen müssen, der Fritz
kommt nicht mehr. Oft helfen schon
Kleinigkeiten. Einen erschöpften,
aber unverletzten Kletterer habe ich
einmal gebeten, vom Dritten Eisfeld
wieder hundert Meter zurück zum
Bügeleisen zu gehen. Da brauchen
wir nicht 200 Meter Longline, da
reichen schon 30 oder 35 Meter. Für
einen Piloten sind das Welten. Der
sieht dich ja nur als Punkt, und du
musst ihn dirigieren. Noch ein Meter
links oder 50 Zentimeter nach vorne.
Was hat sich seit Ihren Anfängen
bei der Bergrettung geändert?
Bei meinen ersten Einsätzen hat
man noch sehr viel von Hand gemacht.
Vom Gipfel aus die Retter an
Stahlseilen ablassen, so habe ich es
gelernt. Ich habe dann mitgeholfen,
die Hubschrauberrettung mit dem
langen Seil zu entwickeln und war
selbst in über 100 Einsätzen an der
Longline unten am Haken.
Wie fühlt es sich an, wenn man
plötzlich in der Wand steht – abgeschnitten?
Das ist komisch. Wenn das Wetter
mal kritisch wurde, habe ich schon
mal gefunkt: Du, setz‘ mich ab, aber
ich hänge mich nicht aus. Ich möchte
schon wieder wegkommen.
Ist in solchen Situationen Platz für
den Gedanken, vielleicht nicht mehr
zurückzukehren?
Daran denkt man nicht. Aber es ist
schon speziell. Du bekommst die
Meldung, musst binnen zehn, zwölf
Minuten parat sein, und dann fliegst
du hoch. Diese Minuten sind wie ein
Film. Was erwartet mich? Einmal
lautete die Meldung: Ein Basejumper
ist vom Pilz gesprungen, hat
den Fels touchiert und ist neben
dem Stollenloch auf einem Felsband
aufgeschlagen. Ich dachte: Um
Himmels willen, was treffe ich da
an. Beim Anflug habe ich im Schnee
einen Punkt gesehen, aber keinen
Schirm. Der Hubschrauber setzt
mich ab, und als ich näher komme,
sehe ich den Basejumper, bis
zur Brust im Schnee. Der Kopf hat
rausgeschaut. Ich komme zu ihm, er
hebt die Hand und sagt: «Servus!»
Unglaublich. Den Schirm hatte er
schon wieder eingepackt. Beim Wegfliegen
hat er zu mir noch gesagt:
Kannst du mich noch auf den Pilz
hochfliegen? Aber das ging natürlich
nicht (lacht).
Amachers Meinung zum Antlitz der
Nordwand: «Mit dem Neuschnee ist
es wieder der Eiger. Vorher war sie
komplett schwarz, sehr unschön.»
Unvermeidlich: Mit jedem Blick in
die Wand scannt Amacher auch die
gängigen Routen ab. «Ich bin beruhigt,
heute ist niemand drin.»
Werden die grossen Tragödien weniger?
Toni Kurz im Jahr 1936, das
berühmte Corti-Drama von 1957 –
aber in letzter Zeit?
Früher gab es die Hubschrauber
nicht. Mit Beginn der Flugrettung
sind die schweren Dramen deutlich
zurückgegangen. Ich erinnere mich
an das Corti-Drama, da war ich ein
kleiner Bub. Ich habe unten vom Tal
mit einem Feldstecher alles verfolgt.
War das ausschlaggebend für die
Berufswahl?
Nicht nur, aber auch. Zuerst habe
ich Spengler gelernt, bin aber immer
mehr in die Berge gegangen. Tragischerweise
habe ich dann meinen
Bruder an der Jungfrau verloren.
Da habe ich entschieden: Ich möchte
auch mithelfen, wenn so etwas
passiert.
Braucht es einen solchen Impuls
von aussen?
Das kann gut sein, ja. Oder ein
Umfeld, das dich anleitet. Man
wächst mit den Aufgaben. Aber
einen Anstoss braucht es.
Spielt Ruhm eine Rolle?
Naja, nein. Es gibt vielleicht solche.
Aber ich gehöre nicht dazu. Es motiviert
mich, wenn man etwas richtig
gemacht hat. Und umgekehrt hadert
man, wenn etwas nicht gelingt.
Was sehen Sie, wenn Sie heute in
die Wand schauen? Nach all den
Erlebnissen?
Ich sehe einen Strich, die Heckmair-
Route, den könnte ich dir genau
nachfahren. Man geht die Linien
durch und erinnert sich, hier war
das, dort war jenes. Das ist wie ein
Film. Aber mit Abstand.
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