«Terroir» muss ein guter französischer Wein einfach haben. Man muss schmecken, was seine Wurzeln sind, woher er kommt. Solch ein «Terroir» hat auch Petzl, die Firma, die sich im Tal der Isère unter die Flanken des Dent de Crolles duckt. Denn ohne dieses Bergmassiv wäre die Firma vielleicht nie gegründet worden. 1936 begann Fernand Petzl, das Höhlensystem des Dent de Crolles zu erforschen und sich dafür seine eigene Ausrüstung zu basteln. Noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte man sich in Höhlen mit Leitern fort – zu umständlich für Petzl, der Seile bevorzugt. 1968 konstruiert er unter dem Namen erste Aufstiegsklemmen und Abseilgeräte für den Einsatz in Höhlen, 1975 wird die Firma Petzl offiziell gegründet.
Heutzutage würde wohl nicht jeder Petzls Wurzeln in der Höhlenforschung vermuten. Denn unter Paul Petzl, der sich schon bald in der väterlichen Firma engagiert und heute directeur général des Familienunternehmens ist, stieg Petzl noch in zwei anderen Sparten zu einer Firma mit Weltruf auf: im Bergsport und im Industrieklettern. Heute hat Petzl 1000 Mitarbeiter, setzt 200 Millionen Euro im Jahr um, hält mehr als 500 Patente und fertigt 30ʼ000 neue Produkte – pro Tag. Ohne das «Terroir» zu verwässern, wohlgemerkt, denn abgesehen von der Näherei in Malaysia für Gurte und Schlingen findet nach wie vor alles in Crolles oder im näheren Umkreis statt, ohne den Einfluss von Investoren.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Aus dem verwinkelten, über die Jahre immer wieder erweiterten «Village Petzl» in Crolles ragt schon von Weitem sichtbar ein gut 25 Meter hoher Turm heraus – das V-Axess-Center. Von innen erinnert es an eine entkernte Kletterhalle, mit verschiebbaren Wänden, Seilwinden und vielen Rigging-Traversen, wie sie auf Messen und Konzerten üblich sind. Gerade werden alte, aktuelle und zukünftige Grigris an extrem verschlammten Seilen getestet, um danach die Funktion mit sauberen Seilen zu vergleichen – getestet wird bei Petzl rund um die Uhr. Grösser in Ausmassen und Bedeutung ist nur noch das 2012 erbaute Hochregallager. Auf 7000 Quadratmetern lagert hier alles, was in eine 60 cm lange blaue Kunststoffkiste passt – von der Niete bis zur fertigen Eisaxt. 72ʼ000 Kisten (Stückpreis 11.– EUR) sind derzeit im Umlauf, ein Drittel der Lagerfläche wird noch gar nicht genutzt. Anlieferung, Kommissionierung, Versand – nichts geht ohne das vollautomatisierte Lager. «Das Lager ist das Rückgrat der Firma», sagt Dominique Carrasco, Betriebsleiter in Crolles. «Ohne das Gebäude bräuchte es 60 Arbeiter mehr. Dafür können wir mehr Geld in die Produktentwicklung stecken.» Von der gibt es in Crolles zwar viel zu hören – allein 60 Ingenieure arbeiten im Bereich Stirnlampen –, aber nichts zu sehen, bis auf eine verschlossene Tür samt einem Smiley mit Reissverschluss-Mund, der «Confidentialité» einfordert.
Jean-Philippe Birmelé ist seit 13 Jahren bei Petzl und wird von allen nur «Jean-Phi» genannt. Der Sales Area Manager für die DACH-Region und Nordamerika führt durch die Produktionshallen. Was als Erstes auffällt: Hier wird nichts dem Zufall überlassen. An jedem Arbeitsplatz sind Schritt-für-Schritt-Anweisungen aufgehängt, auf Dutzenden Magnettafeln wird handschriftlich der Produktionsfortgang notiert, für jeden Rollwagen ist mit Klebeband ein Platz definiert. Petzl orientiert sich damit laut Birmelé am erfolgreichen Lean-Production-System von Toyota, das Verschwendung und Mehraufwand durch möglichst exakte Prozessdefinitionen reduzieren soll. In gewisser Weise hat aber auch der 5. Mai 2011 damit zu tun, als an einem Klettersteig in Grenoble ein junger Mann verunfallte. Eine fehlende Sicherheitsnaht an Petzls Klettersteig-Set war die Ursache. «Paul Petzl hat das sehr belastet», erzählt Birmelé. «Danach gab es eine Philosophie-Änderung bei Petzl.» Ein Netz aus manuellen und automatisierten Kontrollen wurde errichtet, Kameraüberwachung, Laservermessung und ständige Stichproben und Reports sollen fehlerhafte Teile so früh wie möglich aussortieren. Keine Fertigungslinie kann von einer einzelnen Person bedient werden, mindestens ein Kontrolleur ist zur Inbetriebnahme Pflicht. An mehreren Stellen der Halle sind Glaskästen mit Aufsehern installiert. Ein Ampelsystem zieht sich durch alle Produktionslinien und signalisiert, ob es ein Problem gibt.
Made in France
Häufiger als ein Problem kommt allerdings der Zug: Wie die Bimmelbahnen, die Touristen am Strand entlanggondeln, nur ohne Dach und ohne Glocke, sammelt er Fertigware und Ausschuss ein und bringt neue Helmriemen, Grigri-Hebel und Stirnlampen-LEDs aus dem Lager in die Produktion. Während bei Grigris und Helmen der Anteil an Handarbeit hoch ist, läuft z. B. die Stirnlampenfertigung fast vollautomatisch: Innert 15 Sekunden hat ein Roboter die LEDs auf der Platine verlötet, den Lichtreflektor angebracht, das Gehäuse verschraubt und die Lampe auf Funktion getestet. «Von Hand würde es eineinhalb Minuten dauern», sagt Birmelé.
Der Aufstieg Petzls zu einem der führenden Bergsport-Ausrüster hängt eng mit der Firma Charlet Moser zusammen, einem Hersteller von Steigeisen und Eispickel in Rotherens, gute 40 Kilometer flussaufwärts von Crolles. Im Jahr 2000 übernahm Petzl die Firma mit ihren 30 Mitarbeitern und baute sie aus. Heute arbeiten mehr als 100 Beschäftige in der «Schmiede» Petzls: Hier werden Karabiner, Steigeisen, Eisgeräte und Eisschrauben gefertigt. Zwei Mal täglich pendelt ein Shuttle zwischen Crolles und Rotherens, um Einzelteile und Fertigware auszutauschen. Und davon fällt einiges an: Aus fingerdicken, vier Meter langen Alustangen wird in Rotherens alle fünf Sekunden ein Rohling gebogen, der in Pressen und Schleifmaschinen zum Karabiner weiterverarbeitet wird. Die Montage der Schnapper erfolgt von Hand, mittels Druckluft. Und weil hier das gleiche Qualitätsmanagement wie in Crolles herrscht, wird der fertige Karabiner sofort von Lasern auf Masshaltigkeit geprüft. Erst nach Gravur, Registrierung im Warenwirtschaftssystem und Fotos von allen Seiten fällt der Karabiner vom Band – 8000 Stück pro Tag.
Ergonomie, Handling und simplicité – über diese drei Eigenschaften definiert sich laut Jean-Philippe Birmelé die Qualität eines Petzl-Produkts. Sorgfältigkeit könnte man als vierten Punkt hinzufügen. «Wir entwickeln langsam, drei Jahre dauert es vom Pflichtenheft bis zum Produkt im Laden», sagt Birmelé, selbst der Einfluss von Luftfeuchtigkeit auf die Seildehnung wird in Crolles berücksichtigt. Ein zweites Testcenter für Materialforschung ist gerade im Bau. Lange wurde z. B. an einer neuen Eisschraube gefeilt, die nur noch drei statt vier Zähne hat, aber schon beim Eindrehen das Eis zerschreddert, sodass nichts im Schaft kleben bleibt. Gut Ding will eben Weile haben – womit man wieder beim guten französischen Wein wäre.
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