Kindergeburtstag oder Liegewiese? So leicht lässt
sich die Atmosphäre nicht einordnen. Eine
Grossfamilie hat sich auf dem prallgefüllten
Parkplatz in Chiareggio häuslich eingerichtet. Vor dem
Campingmobil tischt eine füllige Italienerin gerade die
Abend-Pasta auf, aus einem Tischradio säuselt Adriano
Celentanos «Azzurro». Einige Meter weiter wirft eine
Gruppe gröhlender Jungs Steine über den Torrente
Mallero,
den Fluss, der das hinterste Valmalenco zum
grössten und malerischsten Freibad des Bergells macht.
So kommt es Bergsteigern zumindest vor, die am langen
Wochenende um den italienischen Nationalfeiertag
Naturgenuss,
Abenteuer und Abgeschiedenheit suchen.
DIE RUHE AM BERG
Umso zufriedener schlürfen Caro und Hannes am Abend
den italienischen Rotwein im urigen Rifugio Porro, denn
die Gaststube teilen sie sich mit gerade mal fünf anderen
Gästen. Dabei liegt das gemütliche Heim nur eine Stunde
und 400 Höhenmeter vom Parkplatz-Trubel entfernt.
Die Hoffnungen auf ein alpines Abenteuer abseits der
Massen sind zurück und dafür soll der Monte Disgrazia
sorgen. Obwohl der Granit-Riese mit 3678 Metern der
höchste Gipfel des Bergells ist, tummeln sich Bergsteiger
und Kletterer lieber an den Modegipfeln Piz Badile, Cengalo oder der Sciora-Gruppe, wo einige Kletterführen mit
Weltruhm warten. Noch deutlich abgeschiedener, wilder,
aber auch anspruchsvoller als der Normalweg auf den
Monte Disgrazia ist der Anstieg über den Nordostgrat.
Die Beschreibung im Alpin-Führer: «Gewaltiger, schöner
Nordanstieg zum Monte Disgrazia. Was für eine Tour!»
Also los.
BLECHSCHACHTEL MIT PANORAMABLICK
Der nächste Morgen. Um 9.13 Uhr nehmen Caro und
Hannes das erste Mal kompakten Granit unter ihre
Finger.
Nach einer imposanten Gletscherquerung geht
es im griffigen Felsgelände hinauf, die Tiefblicke auf den
Eisbruch des Ventina-Gletschers zwingen aber immer
wieder zum Innehalten. Tagesziel der beiden ist das
Bivacco Oggioni, eine Blechschachtel in exklusivster
Panoramalage, 3151 Meter über dem Meer. Für normalsterbliche
Alpinisten ist eine Übernachtung in dieser Notunterkunft
der einzige Weg, den Nordostgrat halbwegs
entspannt zu besteigen – vom Rifugio oder aus dem Tal
ist es zu weit. Wer dem Erlebnis die volle Würze verleihen
will, nimmt im Zustieg zum Bivacco noch die Punta
Kennedy mit und reiht somit zwei gewaltige Gratanstiege
aneinander. Eine Tour der Extraklasse, die sich Caro und
Hannes nicht entgehen lassen wollen.
EINE ABENTEUERLICHE ROUTE
Der Einstieg in dieses Abenteuer ist nicht ganz leicht zu
finden. Der schneebedeckte Gletscher schmiegt sich auf
der Nordseite an den Grat und zieht sich an verschiedenen
Stellen rinnenförmig in Richtung Schneide, als wolle
er Bergsteiger zum Eintritt in eine schier unendliche
Kletterreise locken. Ein Topo oder detaillierte Beschreibungen
zum Ostgrat der Punta Kennedy haben Caro und
Hannes im Vorfeld ergebnislos gesucht. Zwei Schlüsselseillängen
im vierten Schwierigkeitsgrad – darüber sind
sich die einzeilige Anmerkung im Alpinführer und die wenigen
Erlebnisberichte im Internet zumindest einig. Der
restliche Grat ist Kletterei bis zum oberen dritten Schwierigkeitsgrad
und damit wohl nicht näher beschreibenswert.
Viele zeitraubende Meter mit unklarer Wegführung
und mittelmässigem Fels später taucht unverkennbar
die Schlüsselstelle auf. Der Grat verengt sich und steilt
auf. Die erste Seillänge ist plattig, die Möglichkeiten,
mit mobilen Sicherungsmitteln nachzubessern, kaum
vorhanden.
Immerhin ragen weiter oben hier und da
Schlaghaken aus engen Rissen, die ersten eindeutigen
Begehungsspuren der gesamten Tour, ganze vier Stück
auf insgesamt 40 Metern. Die schweren Bergstiefel suchen
Halt auf flachen Reibungstritten, Hannes wird mal
wieder klar, wie unangenehm sich ein alpiner Plattenvierer
im kletterschuh-verwöhnten Zeitalter anfühlen kann.
Um die Nerven zu beruhigen, legt er eine Bandschlinge über ein angedeutetes Felsköpfchen, dessen Nase sich
auf der Platte nur minimal nach oben wölbt. «Versuchen
kann man es ja mal», ruft er zu Caro hinab und schiebt
sich beherzt auf den nächsten Tritt. Die zweite Schlüssellänge
ist deutlich steiler. Im griffigen Fels weicht die
Anspannung einem breiten Grinsen – auch, wenn weder
Absicherung noch Wegfindung Sportkletter-Gefühle
aufkommen lassen. Immerhin nimmt der Fels hier
zwischen den Schlaghaken willig Friends und Keile auf.
Während die Touren an den beliebtesten Kletterbergen
des Bergells meist sanft saniert wurden, finden sich auf
dieser Führe bis zum Gipfel keine Bohrhaken, ein dicker
Pluspunkt für den Abenteuer- und Einsamkeitsfaktor.
EINSAM AM BERG
Die zweite Grathälfte zur Punta Kennedy ist reiner Genuss.
In festem und griffigem Granit zackt sich die Schneide
schier endlos in Richtung Westen, traumhafte Kletterei bis
in den oberen dritten Schwierigkeitsgrad. Wie im Rausch
spulen Caro und Hannes Meter um Meter zum Gipfel,
die drohende Dämmerung drückt zusätzlich aufs Tempo.
Felsköpfchen für Bandschlingen, Rissverschneidungen für
Klemmgeräte: Die Strukturen scheinen wie gemacht für
Kletterer. Kaum zu glauben, dass auch der Bergeller Granit vergänglich ist: Im Winter 2011 stürzten am berühmten
Kletterberg Cengalo zwei Millionen Kubikmeter Fels ins
Tal, das entspricht dem Volumen von 2500 Einfamilienhäusern.
Die Punta Kennedy bleibt heute standhaft. Vom
Gipfel ist die rot schimmernde Blechschachtel des Bivacco
Oggioni nicht mehr zu verfehlen, romantisch schmiegt sie
sich 150 Höhenmeter tiefer in den Sattel zwischen Monte
Disgrazia und Pizzo Ventina. Die letzten Meter über den
firnigen Gletscher werden zum Schaulaufen der Gefühle.
Die Abendsonne taucht die umliegenden Berge in zartes
Rosa, beim Blick nach rechts fällt direkt der Piz Bernina
ins Auge, an dessen berühmten Biancograt sich Caro
und Hannes auch schon in die Perlenschnur der Bergsteigermassen
eingereiht haben. Heute haben sie seit
dem Frühstück im Rifugio Porro nicht einen Menschen
gesehen. Das ändert sich auch nicht, als sie die Tür der
Blechschachtel öffnen, erleichtert und betört von den Eindrücken
des Tages bereiten sie ihr Lager für die Nacht.
EINE LEGENDE AUS STEIN
Die Sonne hat sich gerade über die Gipfel der Engadiner
Bergriesen geschält, als Caro und Hannes am oberen
Ende der Firnflanke ihre Steigeisen verstauen und in die
Granitreise zum Disgrazia-Gipfel starten. Der Tag beginnt,
wie der letzte aufgehört hat: genussvolle Kletterei mit atemberaubenden Tiefblicken. Schier endlos zieht
sich der Grat nach Südwesten auf den höchsten Punkt
des Bergells zu. Was vom Bivacco wie ein Katzensprung
wirkte, offenbart sich als ständiges Auf und Ab durch rot
leuchtenden Granit. Die Schlüsselstelle des Anstiegs ist
zugleich Namensgeber der Tour: Via «Corda Molla». Wie
ein «hängendes Seil» zieht eine gut 45 Grad steile Firnschneide
zu den Gipfelfelsen. Bei gutem Trittfirn ist die
Passage nicht allzu schwer. Heikel wird es bei Blankeis,
denn die Flanke fällt steil ab, um dann in einem Abbruch
über dem Disgrazia-Gletscher zu enden. Zusätzliche
Eisschrauben sollten unbedingt im Gepäck sein. In griffigem
Firn stapfen Caro und Hannes die ersten, flacheren
Meter hinauf. Auf halber Strecke hat der schwindende
Schnee eine Felsnische freigegeben, in der ein Stand aus
soliden Schlaghaken für Entspannung sorgt. Die zweite
Hälfte steilt deutlich auf und auch der Untergrund wird
anspruchsvoller. Hannes versenkt einige Eisschrauben.
Auf den letzten Metern zeigt die Schlüsselstelle Zähne:
Die Frontalzacken der Steigeisen bohren sich in eine
dünne Blankeis-Auflage und krachen auf Granit. Auch
das zusätzliche Eisgerät, das Hannes vorsorglich an den
vollgepackten Rucksack gesteckt hat, leistet nervenschonende
Dienste.
Steil leiten die Felsen der schattigen Nordwand von hier
zum Gipfel. Trotz unklarer Wegfindung sind die letzten
Meter schnell vollbracht, leider kann die Felsqualität
nicht mit den hervorragenden Gratpassagen der vergangenen
Stunden mithalten. Dennoch: Caro fällt Hannes
überglücklich in die Arme. «Was für eine Mega-Tour!» Vor ziemlich genau einem Jahr
standen sie gemeinsam auf dem
Bergeller Paradegipfel Piz Badile.
Den Weg über dessen Nordgrat
hatten sie sich allerdings hart
erkämpfen müssen: Stau an jedem
Standplatz, wildes Seil-Wirrwarr
und rücksichtsloses Gerangel um
Griffe, Tritte und Platzierungen.
Jetzt können es beide kaum fassen:
Auch am Gipfel begegnen sie keinem
Menschen. Ein alpines Abenteuer
in völliger Einsamkeit. Kurz
unterhalb steht mit dem Bivacco
Rauzi eine weitere Notunterkunft
parat. Ein Blick auf die Uhr verrät
jedoch: Noch ist Zeit für den Abstieg
zum Bivacco Kima. Als sie sich im
bestens ausgestatteten Steinbau
ihr Abendessen auf dem Gaskocher
brutzeln, bekommen sie nach 36
Stunden Zweisamkeit zum ersten
Mal wieder fremde Gesichter zu
sehen: Ein italienisches Pärchen gesellt sich ebenfalls
ins heimelige Bivacco Kima, das direkt am beliebten
Weitwanderweg Sentiero Roma liegt. Auf dem Rückweg
begegnen sie am nächsten Tag keinem Menschen. Denn
anstatt ins Veltlin abzusteigen und mit dem Taxi oder Bus
zum Ausgangspunkt zurückzukehren, wie es die meisten
Überschreitungs-Aspiranten machen, hat Hannes eine Alternative ausgetüftelt: Über den Passo Mello zurück ins
Valmalenco. Dieser Übergang wird in der Literatur kaum
erwähnt, aktuelle Infos gibt es keine. Erst der Hüttenwart
des Rifugio Porro konnte über diese Variante Auskunft
geben – zumindest einigermassen: «Not impossible. But
be careful», hatte er den beiden mit auf den Weg gegeben
und von einem kaum mehr genutzten, etwas heiklen
Übergang gesprochen. Entsprechend gross sind Freude
und Erleichterung, als Caro und Hannes jenseits des
Passo Mello die Randkluft auf den Disgrazia-Gletscher
überwunden haben – das letzte fehlende Puzzlestück zu
einer gewaltigen Überschreitung. Zwei Stunden später
stehen sie wieder auf dem staubigen Parkplatz, es riecht
nach Holzkohle, Grillfleisch und Sonnencreme. Kaum zu
glauben, dass in unmittelbarer Nähe dieses Trubels einsame
Abenteuer warten. Ein wahrer Alpinisten-Segen.
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