Das Mont-Blanc-Massiv – für Alpinisten ist es nicht nur der höchste Spielplatz Europas, sondern auch der vielfältigste. Keine Spielart des Bergsteigens, die hier zu betreiben unmöglich ist, kaum eine touristische Sünde, die hier nicht schon begangen wurde. Und trotzdem bleibt noch genügend Platz für das Wesentliche: Erlebnisse in einer einzigartigen Bergwelt.
Einen noch idiotischeren Platz hätten wir uns kaum aussuchen können: Über uns ein haushoher Serac, neben mir eine Spalte, so tief, dass man darin ein Hochhaus versenken könnte. Es ist mitten in der Nacht und wir stehen auf dem Charpoua-Gletscher. Und wir diskutieren. Über den Sinn und Unsinn, bei nächtlichen Temperaturen von über null Grad über den Sans-Nom-Grat auf die Aiguille Verte zu steigen. Nach einer «gefühlten» Stunde (in Tat und Wahrheit waren es kaum zehn Minuten) gehen wir weiter, um keine 30 Minuten später doch umzudrehen. Ein faustgrosser Stein auf meinem Helm gibt den letzten Anstoss, unser Unternehmen abzublasen und auf bessere Bedingungen zu warten. Stillschweigend marschieren wir im Gänsemarsch zurück.
In die Charpoua-Hütte reingehen wollen wir noch nicht, schliesslich schlafen der Hüttenwirt und die wenigen Gäste noch. Kitschig rot geht nun am gegenüberliegenden Mont Blanc die Sonne auf. Ein grandioser Tag beginnt und wir sind wieder unten statt am Berg. War es wirklich die richtige Entscheidung, umzudrehen? Angewärmt durch die ersten Sonnenstrahlen mag man kaum glauben, dass wir noch vor wenigen Stunden mit weichen Knie am Berg standen. Aber die Delle auf dem Helm sowie der blutige Kratzer an meiner Augenbraue sprechen eine deutliche Sprache: Es war die richtige Entscheidung, auch wenn sie für mich besonders bitter ist, da ich jetzt schon zum dritten Mal an der Aiguille Verte umdrehen musste. Bergsteigen in der Mont- Blanc-Gruppe hängt eben schon lange nicht mehr nur vom Wetter ab, sondern vor allen Dingen von den Verhältnissen.
Zwei Monate später treffen wir uns wieder in Chamonix. Um nicht nochmal ein ähnliches Desaster wie an der Aiguille Verte zu erleben, gilt unser erster Gang dem Office de Haute Montagne, dem lokalen Bergführerbüro. Zusammen mit Dutzenden von muskulösen, gut trainierten Männern und Frauen schauen wir uns das riesige Plastikmodell der Mont-Blanc-Gruppe an und werfen anschliessend einen Blick in die ausliegenden Tourenbücher.
Bei einem Kaffee im englischsprachigen Café Nacional besprechen wir die weitere Planung. Gemeinsam wollen wir einige der grossen Grate der Umgebung angehen. Und von denen gibt es hier auf engstem Raum mehr als in jeder anderen Gebirgsgruppe der Alpen: Ob Kuffner-, Rochefort-, Teufels- oder Peuterey-Grat, Namen die jeder Bergsteiger kennt und die man nur mit einem erhabenen Schauer über die Lippen zu bringen wagt. Wir diskutieren, wie wir uns denn nun all den grossen Zielen nähern wollen.
ABSEITS AUSGETRETENER GRATE
Möglichkeit A ist sicherlich die Seilbahn auf die Aiguille du Midi: Von 1033 auf 3842 m in 15 Minuten, anschliessend Schlange stehen am Cosmique-Grat, den Geruch von Erbrochenem stets in der Nase? Wir entscheiden uns für eine andere Möglichkeit und die wird uns morgen in den Südwesten des Mont Blanc, in das Val Montjoie, führen. Der Südwesten gilt als eine der wildesten und abgeschiedensten Ecken des Massivs, keine Seilbahn führt auch nur in die Nähe der Berge. So setzen wir mühsam einen Schritt hinter den nächsten, der Schweiss läuft – allein während des Zustiegs zum Refuge des Conscrits wollen 1400 Höhenmeter überwunden werden. Dabei führt der Weg zunächst durch Wald und über saftig grüne Alpwiesen, später geht es dann über den von Jahr zu Jahr schotteriger werdenden Tré-la-Tête-Gletscher und zum Schluss wollen auch noch einige senkrechte Leitern geklettert werden. Letzteres scheint nahezu ein Markenzeichen aller Hütten im Mont-Blanc-Gebiet zu werden, kaum ein Gletscherzustieg, der nicht über Metall auf’s Eis führt. Und den Schweiss wollten wir ja, er ist das Eintrittsgeld für die Einsamkeit. Unser Ziel sind die Dômes de Miage, ein 3669 m hoher Berg. Als wir am nächsten Morgen über steile Firnflanken die Aiguille de la Berangère erreichen, liegen die Dômes de Miage vor uns: Ein gestreckter, knapp 2 km langer Grat, der nie zu steil und nirgendwo messerscharf über mehrere kleine und grosse Gipfelchen nach Nordwesten führt. Eine perfekte Tour, um sich wieder an das Gehen mit Steigeisen zu gewöhnen und die auch die Schnappatmung in der dünnen Luft langsam wieder normalisiert. Nach rund fünf Stunden Grat erreichen wir das Refuge Durier, welches den Ausgangspunkt für die eigentliche Reifeprüfung für Gratbergsteiger im Mont-Blanc-Gebiet darstellt: die Aiguille de Bionnassay. Dieser mit 4058 m «kleine» Viertausender gehört zu den ganz grossen Graten in den Alpen, nur dass das die wenigsten zu wissen scheinen. Sichtbares Zeichen dafür ist allein die Grösse des Refuge Durier am Fusse des Südwestgrates des Berges: Gerade mal zwölf Leute passen in die winzige Blechschachtel.
Die ersten Höhenmeter führen noch relativ entspannt im Lichtkegel der Stirnlampen in Richtung Berg. Die Schläfrigkeit verfliegt schlagartig mit Erreichen einer fast senkrechten Felsstufe: Erst links, dann rechts des Grates turnen wir einen äusserst luftigen Kamin hinauf, Adrenalinausschüttung garantiert. Kalte Finger wahrscheinlich auch, denn die Aiguille de Bionnassay liegt genau im Schatten des Mont Blanc, auf dessen anderer Seite die Sonne schon längst aufgegangen ist. Neidvoll blicken wir auf die von den ersten Sonnenstrahlen modellierten Wolken unter uns – ein Blick wie aus dem Flugzeug. Nach diesen letzten Metern im Fels erreichen wir ein Gebilde, das uns den Atem stocken lässt: Wie eine gigantische, gefrorene Welle führt der Grat zunächst auf den höchsten Punkt der Aiguille de Bionnassay und dann hinüber zum Dôme du Goûter am Mont Blanc. Und wir sind genau auf dem Kamm dieser weissen Woge, wie ein Wellenreiter, nur dass hier entweder der Sturz in die 1000 m tiefe Nordwand oder in die kaum weniger bedrohlich aussehende Südflanke droht. Wenn man sich hier anseilt, so viel ist klar, hilft im Falle eines Falles nur der rechtzeitige Sprung auf die andere Seite. Manchmal wird der Grat so schmal, dass wir uns nur rittlings hinübertrauen. Bei viel Wind oder aperen Verhältnissen möchte ich hier oben nicht sein, so viel ist klar.
EIN HÖLLISCHES VERGNÜGEN
Nach der Aiguille de Bionnassay fühlen wir uns fit genug für einige der namhafteren Grate am Mont Blanc, wobei etwas ausgesetzter, zumindest im Eis, kaum vorstellbar ist. Wohl aber im Fels! Und in diesem Sinne gibt es einen Grat, der zu den berühmtesten Touren der Alpen gehört und der allein von seinem Anblick her jeden Fantasy- Autoren in Ekstase versetzt: der Teufelsgrat am Mont Blanc du Tacul! Obwohl nur mit V (nach UIAA) bewertet, hat es dieser Klassiker doch in Walter Pauses Auswahl «Im extremen Fels» geschafft. «Wir befinden uns endgültig in einer Oase der Ordnungswidrigkeiten ...» beschrieb er den Anblick dieser fünf allesamt über 4000 m hohen Granitnadeln. Bester Ausgangspunkt für die Überschreitung dieser Nadeln ist das Rifugio Turino – ein Hütte, die in ihrer Grösse und Betriebsamkeit kaum gegensätzlicher zu den zuvor von uns besuchten Refugien am Charpoua-Gletscher bzw. am Fuss der Aiguille de Bionnassay sein könnte.
Der Zustieg zum Teufelsgrat verläuft durch den Cirque Maudit, ein natürliches Amphitheater, das einem angesichts seiner wilden Schönheit die Sprache verschlägt: Unfassbar, wie dort dicht aneinandergedrängt rotbraune Granitpfeiler wie die Säulen einer gigantischen Kathedrale in den Himmel schiessen – ein wahrer Tempel der Berge! Und genau über die rechte Säulenreihe führt uns der Teufelsgrat. Als wir dort oben ankommen, ist es noch bitterkalt, der Wind pfeift. Und noch während ich überlege, ob ich bei diesen Bedingungen die Kletterschuhe anziehe, sind die Finger so ausgekühlt, dass ich ich sie kaum noch spüre. Ich hätte die Schuhe wechseln sollen: Denn fünf Minuten später, im Einstiegsriss an der Pointe Chaubert, wünsche ich mir sowohl Kletterschuhe als auch dringend mehr Gefühl. «Raaaatsch» macht’s und ich hänge erstmals in meinem Leben an einem Klemmkeil in einem angeblich nur mit IV bewerteten Riss. Die Finger sehen aus, als wären sie durch einen Fleischwolf gedreht worden, warmes Blut sickert die Wand hinunter. Kurze Zeit später sind die Schuhe gewechselt und die Finger wieder warm. Und dann macht der Teufelsgrat einfach Spass! Mit den ersten Sonnenstrahlen turnen wir die Pointe Mediane hinauf, wundern uns kurze Zeit später über ein skurriles Felsfenster, durch das wir uns hindurchquetschen müssen, und staunen an jeder der fünf Abseilstellen, wie der Wind uns freihängend zwischen den Türmen hin und her pendelt. Der Teufelsgrat – ein wahrhaft höllisches Vergnügen!
EIN GROSSARTIGES FINALE
Zwei Tage später – wir sind wieder im Cirque Maudit – wenden wir uns dieses Mal einem Grat zu, der vielleicht die perfekteste Symbiose zwischen Fels und Eis im Mont-Blanc-Gebiet darstellt – der Kuffnergrat am Mont Maudit. Wenn ich nur einen einzigen Grat hier wiederholen dürfte – dann diesen! Warum das so ist, erschliesst sich allerdings erst auf den zweiten Blick, denn die Tour glänzt weniger durch spektakuläre Einzelstellen, sie ist vielmehr eine insgesamt harmonische Reise durch eine der wildesten Ecken der Alpen. Kein Haken erleichtert die Orientierung und auch eine ausgetretene Spur ist in diesem eher einsamen Winkel des Mont Blanc nicht zu erwarten. Stattdessen manövriert man sich wie ein in die Vertikale geratener Seemann durch ein chaotisches, aufgewühltes Meer aus Fels und Eis: Mal müssen wir uns durch einen Kamin stemmen, mal ist ein steiler vereister Hang zu queren und mittendrin stehen wir auf einer Wechte, die wie eine Woge über allem zusammenschlägt. Die rasante Fahrt endet auf der spektakulären Gipfelnadel des Mont Maudit, nur eine Stunde vom höchsten Punkt Europas entfernt. Meine Seilschaftspartner gehen noch hinüber zum Allerhöchsten der Alpen, sie werden mir später etwas von einem einsamen Gipfel erzählen. Ich selbst bin aber noch so randvoll vom Erlebnis «Kuffnergrat», all den Eindrücken der letzten Tage, ich mag nicht mehr. Der Mont Blanc selbst hätte das Fass nur zum Überlaufen gebracht. Genug ist genug, Berge laufen nicht weg. Und Grate, um zurückzukommen, gibt es hier mehr als genug, ob Peuterey-, Hirondelles- oder natürlich auch der Sans-Nom-Grat an der Aiguille Verte.
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar schreiben