Bereits nach der ersten halben Stunde unserer Viertagestour tauchen wir ein in eine alpine Wildnis: Die Felsgipfel des Alplistocks und des Brandlammhorens ragen vor uns auf, dazwischen breitet sich der Bächlisboden aus – tief verschneit und durchzogen von Mäandern, deren Wasser sich den Weg durch den Schnee geschmolzen haben. Wir sind im Bächlital im Grimselgebiet. Ein Tal, so wild und schön, dass es für sich allein eine Tour wert wäre. Doch diesmal ist es für uns nur Etappenziel unterwegs in eine noch wildere Welt: das Gauli. Jenes Hochtal, das sich zwischen Grimselpass und Wetterhorn versteckt. So abgelegen, als gehörte es zu einem Märchenreich.
So treten wir am nächsten Morgen im Dunkeln aus der Bächlitalhütte und ziehen dem Talende entgegen. Immer klarer treten die Silhouetten der Granitgipfel in der Morgendämmerung hervor. Und als der Tag aprikosenfarben über den Horizont streicht, blicken wir zur Pforte, die uns ins Gauli führen wird: die Obere Bächlilücke. Ein Übergang, den man als unpassierbar taxierte, wären da nicht die Metallleitern, an denen wir in der Morgensonne hochklettern. Sprosse um Sprosse aufwärts, als stiegen wir an ihnen bis in den Himmel. Stattdessen zwängen wir uns bald durch zwei Felsblöcke in die Scharte der Oberen Bächlilücke, aus der uns ein eisiger Wind indes gleich wieder vertreibt. Dennoch ist der Übergang ein besonderer Ort, ist er doch die Eintrittspforte ins Gauli. Wobei das Neuland mit einer steilen Flanke aufwartet, die so hart gefroren ist, als würden wir auf Ski über Kies rattern. Erst weiter unten scheint uns das Gauli freundlich zu begrüssen: mit Sulzhängen, über die wir talwärts schwingen. Hinein in diese Welt, die so einsam wirkt, als wären wir die letzten Menschen auf Erden.
Das Wunder vom Gauli
Kaum zu glauben, dass dieses Hochtal einst im Fokus der internationalen Presse stand. Damals, als ein Flugzeug auf dem Gauligletscher bruchlandete. Oder eher: ohne zu zerschellen abstürzte. Ihren Anfang genommen hatte diese Geschichte in einer stürmischen Novembernacht im Jahr 1946, als eine US-amerikanische Dakota C-53 mit acht Passagieren an Bord, darunter hochrangigen US-Militärs, auf ihrem Weg von Wien nach Marseille vom Kurs abkam, in der Dunkelheit an den Gipfeln des Gauli vorbeischoss und auf dem Gletscher zuhinterst im Tal strandete. Wie durch ein Wunder überlebten Passagiere und Crew und wurden nach vier Tagen evakuiert. Notabene dank eines Kleinflugzeugs auf Schneekufen. In einer Rettungsaktion, die als Geburtsstunde der alpinen Luftrettung gilt. Und die just im richtigen Moment kam: Einen Tag später legte sich der Winter über das Gauli und das Wrack verschwand in Schnee und Eis. Bis vor acht Jahren ein Propeller als erstes von mehreren Wrackteilen auf dem schmelzenden Gauligletscher auftauchte.
Hexenhaus im Labyrinth
Als wir dem Gauli entgegenschwingen, ist von alldem nichts zu sehen. Wir blicken auf Schneeberge, die in aller Stille aufragen, während Eisschollen im Gaulisee treiben. Dem runden See, der sich im Talboden ausbreitet, wo einst der Gletscher lag. Noch weit über seinem Ufer erreichen wir die Schneegrenze, binden die Ski auf und steigen zu Fuss weiter ab durch Geröll. Bis wir mit einem Mal wirklich im Märchen ankommen: smaragdfarbene Bergseen, rostfarbene Gletscherschliffplatten, Tümpel, in denen handgrosse Frösche quaken, und Sandstrände, so fein wie nasser Puderzucker. Wir legen die schweren Rucksäcke ab, ziehen die Skitourenschuhe aus, gehen barfuss durch den Sand und legen uns in den Kuhlen der Felsplatten in die Sonne. Dann wieder setzen wir uns auf und blicken um uns. «Als wären wir in Kanada», sagt meine Kollegin. Ich nicke. In der Tat: Grönland, Island, Yukon fallen auch mir ein – dort habe ich letztmals eine solche Ruhe erlebt.
Erst Stunden später machen wir uns auf zur Gaulihütte. Schultern wieder Rucksäcke und Ski, gehen zu Fuss durch ein Labyrinth aus Tälchen und Wasserläufen, stapfen durch nassen Schnee und steigen schliesslich auf zu dieser Hütte, die aussieht, als hätte ein Kind sie gezeichnet: ein Hexenhaus mit roten Fensterläden und Sprossenfenstern, die mich an freundliche Augen erinnern. Am Abend dann sitzen wir in ihrer Holzstube, während im Ofen ein Feuer knistert und knackt. Draussen zieht derweil die Nacht mit ihren Schatten über die Gipfel, und mit ihr scheint sich eine ewige Stille über das Gauli zu legen. Nur noch das Rauschen der Bäche dringt von der Schwemmebene her zu uns hoch. Und als wir im Dachstock unter die Decken kriechen, ist uns, als wären wir seit Tagen in der Wildnis unterwegs.
Ränfenhorn, Hangendgletscherhorn, Hubelhorn – viele Tagestouren wären im Gauligebiet möglich. Wir aber entscheiden uns für einen Gipfel, der mehr an Frühlingswiesen denn ans Hochgebirge erinnert: das Ankenbälli. Am frühen Morgen ziehen wir deshalb tiefer hinein in das Hochtal, lassen den Gaulisee hinter uns, überqueren den Gauligletscher, auf dem einst das Flugzeug strandete, und steigen über weite Gletscherhänge dem Gipfel entgegen. Eine ganze Weile lang, denn der Berg mit dem blumigen Namen ist 3600 Meter hoch. Und als wir wenig oberhalb des Skidepots den kleinen, felsigen Gipfelaufbau erreichen, trauen wir unseren Augen kaum: Das sanfte Ankenbälli bricht nach Süden in Felsfluchten ab und wir blicken – über den Kessel des Lauteraargletschers hinweg – mitten ins vielleicht abgelegenste Gebiet der Schweizer Alpen, in dem sich als stoische Majestäten direkt vor uns Schreckhorn und Lauteraarhorn erheben.
Durch Mühsal zu den Sternen
Noch wissen meine Kollegin und ich nicht, dass wir wenige Monate später gemeinsam auf dem Lauteraarhorn stehen werden. Denn während der Gipfelrast auf dem Ankenbälli haben wir nur einen Plan: den Moment des perfekten Sulzes zu erwischen. Was wenig später gelingt und uns eine Abfahrt beschert, während der ich mir sicher bin: Unsere Tourenskis sind zu fliegenden Teppichen geworden, auf denen wir in weiten Bogen dem Gauli entgegenfliegen! Es ist eine Abfahrt, nach der uns nichts mehr zu stören vermag. Nicht der Gegenanstieg in der Mittagssonne, um zurück zur Hütte zu gelangen. Nicht die anderen fünf Tourengänger, die mittlerweile in dieser angekommen sind. Und auch nicht die Tatsache, dass es am nächsten Tag zu warm sein wird, um via Rosenhorn ins Rosenlaui abzufahren.
Stattdessen werden wir tags darauf die Ski nochmals aufbinden, zu Fuss durch die Wasserläufe der Schwemmebene unter der Hütte waten und die Rucksäcke drei Stunden lang hinab ins Urbachtal tragen. Aber eben: Durch Mühsal gelangt man bekanntlich zu den Sternen. Oder in unserem Fall: zu Erlebnissen in einer Wildnis, wie wir sie zuvor in den Alpen noch kaum je erlebt haben.
Info - vom Bächlital ins Gauli
Gebiet
Das Gauli liegt verborgen zwischen Grimselpass und Wetterhorn; im Winter sind sämtliche Zustiege nur bei sicheren Verhältnissen möglich; hier beschrieben ist die Zugangsvariante durch das Bächlital; weitere Zustiege führen durch das Urbachtal, das Rosenlaui oder das Unteraar- / Lauteraargebiet.
Anreise/Rückreise
Mit dem Zug nach Innertkirchen; Bus auf Anfrage bis zur Talstation der KWO-Werkbahn Handegg-Gerstenegg, sobald die Grimselpassstrasse bis Räterichsbodensee offen ist Taxi ab Innertkirchen oder Meiringen (kein Rufbus / Werkbahnbetrieb mehr); Rückreise per Taxi aus dem Urbachtal nach Innertkirchen oder Meiringen; mehrere Taxidienste im Haslital.
Ausgangspunkt
Bergstation Gerstenegg (KWO-Werkbahn Handegg-Gerstenegg) unterhalb des Räterichbodensees
Endpunkt
Mürvorsess im Urbachtal
Hütten
Bächlitalhütte SAC, 033 973 11 14
Gaulihütte SAC, 033 971 31 66
Route
Gerstenegg Bergstation – Bächlitalhütte: WS, 620 Hm, 2 1/2 Std.
Bächlitalhütte – Obere Bächlilücke – Gaulihütte: WS+, 4-6 Std. (je nach Schneelage)
Gaulihütte – Ankenbälli – Gaulihütte: WS+, 6 1/2 Std.
Gaulihütte – Urbachtal: WS+, 3 Std. (je nach Schneelage)
Weitere lohnende Touren von der Gaulihütte aus sind das Hubelhorn (WS), das Ränfenhorn (WS+) und das Hangendgletscherhorn (WS+); ein eleganter Rückweg führt bei guten Schneeverhältnissen über das Rosenhorn oder das Wetterhorn hinab ins Rosenlaui (ZS+)
Karte
www.map.geo.admin.ch, www.whiterisk.ch
Literatur
Martin Maier: Skitourenführer Berner Alpen Ost – Hohgant bis Aletschhorn, SAC-Verlag 2016; Online-Tourenportal unter www.sac-cas.ch (mit Jahres-Abo des Tourenportals)
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