Tessin: Italienisches Flair und Schweizer Granit
Mit mediterranem Flair und über 4000 Boulderproblemen an perfekten Granit-und Gneisblöcken lockt das Mekka in der Südschweiz jedes Jahr Boulderer aus allen Ecken der Welt an. Dabei finden Profis genauso wie Anfänger im italienischsprachigem Tessin ein kleines Paradies.
Die erste 8C weltweit
Bis das Tessin Kult-Status erreichte, dauerte es. Viele Jahre waren die riesigen Felsblöcke einzig eine Trainingsalternative für ambitionierte Alpinisten, die sich auf die grossen Granitwände vorbereiteten. So nahm auch Claudio Cameroni, der zu den bekanntesten Boulderern-Pionieren des Tessins gehört, die Blöcke aus Granit und Gneis zunächst kaum wahr. Erst als Cameroni den starken Westschweizer Boulderer Fred Nicole ins Tessin einlud, wurde ihm das riesige Potenzial direkt vor seiner Haustüre bewusst. Zusammen mit anderen starken Boulderern trug er massgeblich zur Erschliessung der Gebiete bei. Im Oktober 2000 machte das Tessin schliesslich international Schlagzeilen: Mit der Erstbegehung von «Dreamtime» in Cresciano eröffnete Fred Nicole die weltweit erste Route im Schwierigkeitsgrad 8c. Dieser neue Grad lockte Profis aus der ganzen Welt in die Südschweiz: Dave Graham, Chris Sharma oder Adam Ondra versuchten sich an dem Masterpiece. Obwohl der Boulder längst nicht mehr das schwierigste Problem ist, bleibt «Dreamtime» ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Boulderns.
Mekka in der Südschweiz
So wurde das Tessin in den letzten zwanzig Jahren zu einem wahren Paradies. Unzählige neue Gebiete und Probleme wurden von Locals genauso wie von der internationalen Szene erschlossen. Heute zählen Chironico, Cresciano, Brione im Val Verzasca, der Gotthardpass oder das nahegelegene Bündner Calancatal zu den beliebtesten Gebieten mit der höchsten Dichte an Routen. Als Ausgangsort empfiehlt sich die hübsche Stadt Bellinzona. Von hier sind die Gebiete in zehn bis 50 Minuten erreichbar. Das ruhige Brione im ursprünglichen Val Verzasca gehört zu den neueren Gebieten und überzeugt mit Gneis von feinster Qualität. Die rund 700 Boulder befinden sich teils im Wald, teils am smaragdgrünen Verzasca-Fluss. Cresciano, das zwischen Bellinzona und Biasca liegt und Anfang der 90er als eines der ersten Gebiete erschlossen wurde, gehört mit über 1400 Problemen ebenfalls zu einem der Top-Spots.
Dabei erfreuen sich vor allem Hardmover über die athletischen, kräftezerrende Boulderprobleme. Chironico liegt 30 Kilometer weiter Richtung Gotthardpass. Die Felsblöcke sind auf einen Felssturz vor rund 11’000 Jahren zurückzuführen, bei dem riesige Felsmassen ins Tal rauschten. In den frühen 80er Jahren erschloss der Basler Richi Signer einige Probleme, danach geriet das Gebiet wieder in Vergessenheit. Erst Mitte der 90er Jahre kam er zusammen mit Fred Nicole und anderen Boulderern zurück. Heute bietet Chironico 37 Sektoren und über 2100 Probleme für Anfänger wie Profis.
Averstal: Im Zauberwald
Fährt man von Chur den San Bernardino hinauf, kommt irgendwann die Ausfahrt Avers/Juf. Würde nicht ein Schild den Magic Wood ankündigen – niemand würde das Weltklasse-Bouldergebiet hier im Wald bei Ausserferra vermuten. Hier kommt niemand zufällig hin.
Drahtseilakt
Als Thomas Steinbrugger, Bernd Zangerl und Co. hier 1999 (manche sagen auch 1996) die ersten Gneissblöcke vom Moos befreiten, dachten sie noch nicht im Traum daran, dass hier einmal ein Bouldergebiet von internationalem Ruf entstehen würde. Damals konnte man den Magic Wood nur über ein Stahlseil erreichen, das über den Fluss gespannt war. Ein kleiner Platz mit Feuerstelle lud zum wildromantischen Campen ein. Weil Paradiese selten geheim bleiben und auch der Bouldersport immer populärer wurde, strömten mehr und mehr Besucher ins «Avers». Wildcamper, zurückgelassener Müll, überfüllte Parkplätze: All das führte zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung. Die Schliessung des Gebietes stand kurz bevor, doch die lokalen Boulderer und die Gemeinde Ferrera fanden einen Kompromiss. Eine Brücke wurde gebaut, der Platz wurde mit Hackschnitzeln aufgeschüttet und ein Dixi-Klo bereitgestellt. Besucher warfen fortan fünf Franken pro Nacht in eine aufgestellte Vertrauenskasse. Dann, anno 2007, begann der Boulder-Boom so richtig und die Situation eskalierte zusehends. 2009 wird «Bodhi Climbing» ins Leben gerufen, ein richtiger Campingplatz mit Sanitäranlagen und Platzregeln (CHF 11.50 pro Tag), und seitdem gibt es auch genügend Parkplätze (CHF 5.-pro Tag). Boulderer und die Bevölkerung vor Ort leben nun in einem guten Miteinander. Jedes Jahr im August wird ein Clean-up Day veranstaltet, bei dem an die 100 Boulderer den Wald nach Müll durchkämmen.
Der magische Wald
Was aber erzeugt die magische Anziehungskraft des Magic Wood? Gleich zu Beginn: Das Avers ist kein Einsteigergebiet, trotz der inzwischen 1200 Boulder. Die lohnendsten Boulder befinden sich im Bereich Fb7a bis Fb8b, unterhalb von Fb6a wird man kaum fündig. Klar gibt es auch schöne Boulder um Fb5a, aber eben nicht so viele. Die Saison beginnt im April oder Mai – je nachdem, wie viel Schnee in den Bündner Alpen gefallen ist. Durch die Höhenlage (1250 m) ist Magic Wood das ideale Sommergebiet, die Boulderblöcke liegen im dichten, schattigen Wald verstreut. Das gesamte Areal liegt oberhalb der eiskalten Ragn da Ferra in Hanglage, die Landezonen unter den Bouldern sind daher selten flach und erfordern ein gutes Arsenal an Crashpads und kundiges Spotter-Personal. Der eigentliche Star im Magic Wood ist das Flair. Am besten lässt man sich einfach von Block zu Block treiben (beim ersten Besuch verläuft sich sowieso jeder), um dann gegen Abend am Lagerfeuer die täglichen Heldentaten auszutauschen und die unvermeidlichen Blessuren zu bedauern.
Hot-Spot der Hardmover-Szene
Vor allem bei den Blöcken nahe des Baches hat die Natur ganze Arbeit geleistet: nirgendwo sonst findet man solch eine Dichte von steilen, schweren Bouldern wie im Magic Wood. Das Who-is-Who der Boulderszene gibt sich hier die Bürste in die Hand: James Webb, Christof Rauch und Daniel Woods haben beachtliche Ticklisten an schwierigsten Bouldern vorzuweisen. Oft ist der Name Programm: beim «Sofa Surfer» FB8a rutscht man bei einem Abgang mitsamt der Crashpads unter den Block, und die von Chris Sharma eröffnete «Unendliche Geschichte» FB8b+ besteht inzwischen schon aus drei Teilen. Bleibt zu hoffen, dass Besucher und Bewohner des Magic Wood auch künftig so gut miteinander auskommen, dass der Bouldersport im Averstal eine unendliche Geschichte bleibt.
Val di Mello: Nach dem Ansturm
Boulderern das Val di Mello schmackhaft zu machen, das hiesse Eulen nach Athen tragen. Kaum ein Ort ist so eng mit dem Bouldersport verbunden wie die italienische Südseite des Bergells. Das wildromantische Tal scheint wie fürs Bouldern erfunden: Ein Flüsschen im Talboden, überall Felsblöcke aus bestem Granit eingestreut, und dazwischen so sanfte Wiesen, dass man oft genug nicht einmal ein Crashpad braucht.
In diesem Paradies hoben Im Jahr 2004 die lokalen «Sassisti» um Simone Pedeferri ein Event aus der Taufe, das über die Jahre absoluten Kultstatus erreicht hat: das «Melloblocco». In einer einzigartigen Mischung aus Wettkampf und Festival zog es über die Jahre immer mehr Boulderer ins Val di Mello, um jedes Jahr Anfang Mai gemeinsam an den scharfen Leisten zu ziehen. Pedeferri legte vorab gut ein Dutzend knallharter Routen als Wertungs-Probleme fest, und wer am Ende der drei Tage des Melloblocco mehr davon knipsen konnte, war der Gewinner. Mit Namen wie Chris Sharma, Adam Ondra, Stefano Ghisolfi und Barbara Zangerl in den Siegerlisten hatte das Melloblocco durchaus den Rang einer inoffiziellen Boulder-Weltmeisterschaft. Trotzdem stand durch die offene Ausschreibung und die zahllosen Teilnehmer, die spontan und ohne Registrierung zum Melloblocco kamen, stets das gemeinsame Lösen von Problemen – egal in welchem Schwierigkeitsgrad – im Vordergrund. Mitte der 2010er Jahre zog das Melloblocco sechs-bis siebentausend Besucher an. Neben den Wettkämpfen gab es Yoga-Workshops, Testevents und Lehrgänge. Mit der 15. Ausgabe des Melloblocco verliess das weltgrösste Bouldertreffen jedoch seine Heimat und zog für 2018 ins schweizerische Cresciano um. 2019 fand es gar nicht mehr statt: Interne Zwistigkeiten unter den Organisatoren und Differenzen mit den Tourismusverbänden werden eine weitere Durchführung wohl verhindern.
Im Paradies der Probleme
Eine Reise nach Italien ist das Val di Mello aber immer noch jederzeit wert. Drei Campingplätze in und um San Martino stehen als Ausgangspunkte für das Val di Mello zur Verfügung. Aber auch das benachbarte Val di Bagni, das Val Masino und der riesige, direkt in der Strassenkurve gelegene Granit-Monolith Sasso Remenno mit seinen Sportkletterrouten sind schnell erreicht. Wer nicht campen möchte, findet etliche Pensionen zur Auswahl. Ein Auto braucht man zur Erkundung der Umgebung jedenfalls nicht, mehr als 1000 Boulderprobleme in über 30 Sektoren sind fussläufig erreichbar. Die Boulder liegen etwa auf 1000 Meter Meereshöhe. Im Herbst erreicht die Sonne zwar erst im späten Vormittag das Tal, das tut der Stimmung jedoch keinen Abbruch. Schon so mancher übereifrige Boulderer hat sich am rauhen, körnigen Granit die Hände bereits am ersten Tag wundgeklettert. Da hilft nur Ruhe bewahren und Handcreme nicht vergessen, der nächste Regentag kommt bestimmt. Und wenn es mal eine Etage höher sein darf, hält das Val di Mello auch eine gigantische Auswahl an alpinen Mehrseillängenrouten bereit.
Fotos © Stefan Kürzi
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