So kann man sich täuschen: «Mein Onkel Raymond wollte den Sherpa-Rucksack zuerst nicht, weil er dachte, ein gelbes Modell würde sich nicht verkaufen», erzählt Françoise Millet, die Enkelin des Firmengründers Marc Millet. Doch dann schlug der ab 1964 produzierte Sherpa 50 mit der dreieckigen Trikolore in den Farben Blau-Weiss-Rot ein wie eine Bombe. Erstmals hatte Millet auf Nylon gesetzt, erstmals abnehmbare Seitentaschen angebracht, ein Patent des Hauses. Nicht nur Reinhold Messner verliess sich auf den Sherpa, als er damit 1978 als erster Mensch ohne künstlichen Sauerstoff den Mount Everest bestieg. Auch die Bauern in den französischen Alpen liebten den Rucksack: Die Seitentaschen waren nämlich perfekt für das Verstauen ihrer Rotweinflaschen. Santé! Als die in Annecy ansässige Marke im Jahr 2021 ihren 100. Geburtstag feierte, war ein ganzer Abend zu kurz für all die Anekdoten, die es zu erzählen gab. Millet hatte ein ganzes Jahrhundert Bergsportgeschichte mitgeschrieben und dabei nicht nur Legenden wie Walter Bonatti, Louis Lachenal oder eben Messner ausgerüstet, sondern auch Amateure – normale Leute, die ein gut gemachtes Produkt zu schätzen wissen, für den Beruf oder in der Freizeit.
Wie so oft spielte dabei der Zufall eine Rolle. Marc und Hermance Millet stammten zwar aus Savoyen, waren aber ins bergferne Lyon gezogen, um dort ihr Glück zu suchen. Eigentlich handelten sie mit Essbarem. Proviant- und Einkaufsbeutel aus Stoff und Leinen fertigten sie nur, weil die Kunden ihres Lebensmittelgeschäfts danach verlangten, und Plastiktüten noch nicht erfunden waren. Um Marc Millets Gesundheit war es jedoch nicht zum Besten bestellt. Die Familie entschied 1928, zurück nach Annecy in die frische Bergluft zu gehen. Der nahe Montblanc inspirierte die Millets dann dazu, aus Leinen nicht nur Taschen, sondern Rucksäcke zu schneidern. Als Marc 1937 starb, übernahm Hermance das Ruder und übergab es 1945 an die Söhne René und Raymond. Ersterer kümmerte sich um das Kaufmännische, René war der Techniker.
Diese Arbeitsteilung funktionierte. Ausserdem holten sie die richtigen Leute an Bord. Louis Lachenal beriet sie bei der Konzeption der ersten Rucksäcke; einen davon trug er 1950 auf den Gipfel der Annapurna, dem ersten erfolgreich bestiegenen Achttausender überhaupt. Damit war der Grundstein für eine ruhmreiche Zukunft gelegt. Die besten Alpinisten arbeiteten mit den Millet-Brüdern in deren Werkstatt in Annecy zusammen: unter anderem René Desmaison, der 1956 den ersten Klettergurt entwickelte, später Walter Bonatti. Noch aber war der Bergsport nicht die einzige Stütze der aufstrebenden Firma. Im Katalog wurden auch «Taschen für Mannschaftssportarten », «Schutzhüllen» und eine «Camping-Kühlkiste» angepriesen. Die Spezialisierung erfolgte Schritt für Schritt, sehr organisch und behutsam. Eine Lokalzeitung schrieb damals, Millet sei vorsichtig in finanziellen Dingen, aber wagemutig bei der Verbesserung von Verarbeitung und Qualität. Die Mitarbeiterzahl stieg auf 30, Millet blieb aber Manufaktur und Familienbetrieb. «In den Ferien haben mein Bruder, drei meiner Cousins und ich in der Herstellung und im Vertrieb gearbeitet. Wir haben den ganzen Tag Löcher gestanzt. Die Lohnzettel habe ich noch», erinnert sich Françoise.
Mehr als Rucksäcke: Mit
seiner Topkollektion «Trilogy»
rüstet Millet Alpinisten
vollumfänglich aus.
Zurück zur Familie
Dass die Menschen während des auch in Frankreich stattfindenden Wirtschaftswunders mehr Freizeit und Geld zur Verfügung hatten, half der Firma. Rückschläge konnten sie nicht stoppen. Auch nicht das Jahr 1962, ein veritables Annus horribilis. Zuerst stürzte in L’Étale eine Gondel ab, in der sich die Familie Millet befand, die das Unglück aber mit Blessuren überlebte. Wenige Tage später brach das Dach des Firmengebäudes zusammen. Aber gibt man in den Bergen auf, nur weil Regenschauer aufziehen? Mais non! In der Küche wurden Nähmaschinen aufgestellt und die Produktion lief weiter, während sich die Millets im Krankenhaus erholten. Früher als andere setzte die Familie auf neue Materialien für ihre Rucksäcke. Grobes Leinentuch war zwar fest und unverwüstlich, aber eben auch schwer. Aus Nylon liessen sich hingegen komfortable, schaumgepolsterte und nahtlose Schulterträger herstellen. Und das Portfolio wuchs: Messner trug 1978 nicht nur einen Rucksack von Millet, sondern auch Wärmekleidung der Franzosen, mit deren Produktion sie in den 70er-Jahren begonnen hatten. Wieder hatten sie die Nase vorn, schneiderten den ersten Parka mit Gore-Tex-Membran. Er hiess Colorado, bestand aus Baumwolle mit Daunenfüllung und war deshalb besonders für Expeditionsbergsteiger interessant. Es lief gut. Aber es war auch anstrengend, ein jetzt schnell wachsendes Unternehmen zu führen. Mit 60 verkaufte René seine Firmenanteile, um die Berge zu geniessen und zu wandern – schon immer seine grosse Passion. Sein Bruder stieg nur ein Jahr später aus. Mit den neuen Eigentümern lief es holprig. Millet geriet finanziell ins Schlingern und wurde 1995 von Lafuma übernommen. Den Athleten, die auf ihre Hausmarke schworen, war’s egal, denn die Produkte waren und sind Spitzenklasse. «Millet ist eine der letzten authentischen Marken mit alpinen Wurzeln in den Westalpen, die ihr Produktportfolio nicht verwässert hat», bestätigt Axel Neumann, Vertriebsleiter in der DACH-Region. Christophe Profit und Eric Escoffier schworen bei ihrer Nordwand-Trilogie auf Millet-Ausrüstung, ebenso Jean-Christophe Lafaille und Patrick Edlinger. Yannick Graziani, der mit Ueli Steck auf seiner letzten Tour unterwegs war, ist heute noch technischer Berater. Inzwischen ist die Millet Mountain Group auch wirtschaftlich wieder in der Spur. Und als 2021 das 100-jährige Bestehen gefeiert wurde, war sogar ein echter Millet als CEO zurück an Bord: Romain ist nämlich ein Spross der Gründerfamilie. Er übernahm das Ruder 2019 und sprüht vor Begeisterung für die Firma. Er hatte schon als Kind mit Messner und Bonatti gespielt, wenn diese zu Besuch waren, ist fasziniert von der Geheimbibliothek des Grossvaters mit den Tourenbüchern. Und seine beiden Kinder sind ebenfalls bergverrückt: «Sie haben gar keine Wahl», sagt er dann mit einem Augenzwinkern. Und schiebt hinterher: «Wenn wir es schaffen, die Leidenschaft und unsere Werte weiterzugeben, wird es Millet auch in den nächsten 100 Jahren gut gehen.» Die Voraussetzungen dafür sind gut, denn Millet ist jetzt wieder vollständig in Familienbesitz. Neben den Millets sind das zwei weitere private Investoren.
Die Brüder René und
Raymond Millet führten
die 1921 gegründete Firma
nach dem Zweiten Weltkrieg
erfolgreich weiter.
«Wir können sehr frei arbeiten», bestätigt Romain, der mehrere Jahre in China lebte und viel Erfahrung mitbringt. In Frankreich ist Millet die Alpinsportmarke Nr. 1, in Japan gehört sie zu den Top drei. Jetzt will er die Marke noch nachhaltiger machen. Eine wichtige Rolle dabei spielen die eigenen Produktionsstätten in Tunesien und Ungarn, wo fast zwei Drittel der gesamten Kollektion entstehen, und wo Millet sogar eine Lizenz hat, um Gore-Tex-Membranen durch die eigenen Mitarbeiter verarbeiten zu lassen – ein Vertrauensbeweis, den die Amerikaner beileibe nicht jeder Firma gewähren. Nachhaltig heisst für Millet vor allem auch: kurze Lieferwege. Und deshalb hat das Unternehmen gemeinsam mit Salomon eine eigene Schuhfabrik in Frankreich gebaut. Die Outdoor-Schuhe, die dieses Werk verlassen, sind hundert Prozent made in France. Millet setzt dabei auf das halbstarre Obermaterial Matryx, eine Nylon- Kevlar-Mischung, die den Fuss optimal unterstützt und mit ausgezeichneter Schweissdurchlässigkeit und Strapazierfähigkeit für hohen Komfort sorgt. Millet erfindet sich ständig neu und bringt bessere und leichtere Produkte zur Marktreife. Der Fokus dabei: schnell, aber trotzdem sicher am Berg unterwegs sein; geringeres Gewicht bei gleicher Wärmeleistung und Robustheit. Ein Highlight der aktuellen Kollektion sind die Trilogy- Sky-Rucksäcke in verschiedenen Grössen. Sie lassen sich mithilfe des schnell verstellbaren Zugsystems Boa Li2 körpernah justieren, um das Gewicht optimal zu stabilisieren. Die Leichtgewichte begeistern ambitionierte Alpinisten, weil der Seitenzugriff mit Reissverschluss auch dann gut funktioniert, wenn das Seil auf dem Rucksack fixiert ist. Und Trailrunner schätzen das Laufwesten- Modell, an dem nichts wackelt – und das genauso fest am Körper wie Millet wieder im Sattel sitzt.
Meilensteine
1921
Marc und Hermance Millet fertigen Einkaufstaschen aus Stoff und Leinen für die Kunden ihres Lebensmittelhandels in der Nähe von Lyon. Marcs angeschlagene Gesundheit bringt sie zurück in die Bergwelt von Annecy, wo sie aufgewachsen sind.
1937
Nach dem Tod von Marc Millet führt Hermance das Geschäft und übergibt es 1945 an die Söhne René und Raymond.
1950
Louis Lachenal hilft den Millet-Brüdern bei der Entwicklung des ersten Bergsteigerrucksacks, einschliesslich jenes Modells, das er 1950 bei der Erstbesteigung der Annapurna verwendet.
1960
Millet bringt den Sherpa 50, den ersten komplett aus Nylon gefertigten Rucksack, auf den Markt. Er ist leichter als Baumwolle und nahezu wasserdicht. Ausserdem verfügt er über einen patentierten Nylon-Rucksackträger, der mit Schaumstoff gepolstert und nahtlos verarbeitet ist.
1970
Millet entwickelt erstmals Bergsportbekleidung und etabliert sich mit dem ersten Parka aus Gore-Tex. Reinhold Messner gelingt 1978 – ausgerüstet von Millet – die erste Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff.
1995
Millet wird von Lafuma übernommen und durchlebt wirtschaftlich turbulente Zeiten. Dennoch überzeugen die Produkte zahlreiche Spitzenathleten, die mit Millet-Ausrüstung Alpingeschichte schreiben.
2019
Romain Millet, ein Enkel von René Millet, übernimmt die Geschäfte. Nach einer Phase der Übernahmen mit Fremdmanagern an der Spitze sitzt damit erneut ein Familienmitglied im Cockpit. Die Millets gehören auch wieder zu den aktuell drei Eigentümer-Familien.
2021
Millet feiert sein hundertjähriges Bestehen.
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