Pascal, du promovierst gerade in Glaziologie und Geomorphologie. Wenn du auf einer Party nach deinem Studium gefragt wirst, wie erklärst du dein Fach?
Bei der Geomorphologie geht es darum, wie Oberflächenprozesse die Landschaft formen. Die Geologie behandelt die grossen Bewegungen, zum Beispiel die Faltung der Alpen. Bei uns geht es eher darum, wie Wind, Wasser und Wetter wirken, wie sich Erosion und Sedimentation bemerkbar machen. Und gerade Gletscher sind extrem effizient beim Erodieren der Landschaft, auch beim Transport von Sedimenten. Ein Gletscher ist wie ein Förderband. Doppelt spannend ist es heute, weil sich die Gletscher stark zurückziehen. Es fliesst viel Schmelzwasser, die Moränen ändern sich andauernd, weil ihnen die seitliche Stütze fehlt. Ich arbeite sozusagen an der Schnittstelle zwischen Glaziologie und Geomorphologie.
Okay. Was kommt dann als klassische Gegenfrage?
Haha! «Was bringt denn das?», wie immer in der Forschung. Ein direkter Nutzen unserer Forschung ist, dass wir Zahlen für den Sedimenttransport liefern. Das ist wichtig für die Staudammbetreiber, die wissen wollen, wie schnell es ihre Stauseen mit Sand und Kies füllt.
Wie sieht das konkret aus?
Wir arbeiten z. B. am Glacier d’Otemma im Val de Bagnes. Unterhalb ist ein grosser Stausee. Wenn der Gletscherbach viel Sediment hineinspült, verringert sich seine Kapazität und der Kraftwerksbetreiber kann dann viel weniger Elektrizität produzieren. Natürlich will auch der Bund wissen, wann wie viel Elektrizität geliefert werden kann. Unsere Wasserkraft wird künftig mehr von der Schneeschmelze und vom Regen abhängen, weniger von der Eisschmelze. Und zwar, weil wegen des Klimawandels schlicht und einfach nicht mehr so viel Eis da ist, das den Stausee füllen könnte.
Sind eure Daten auch relevant zur Abwehr von Naturgefahren?
Sie können zumindest dabei helfen. Zum Beispiel, wenn wir mit dem Radar Wassertaschen entdecken, die auf einen Schlag platzen und zu Überflutungen führen könnten. Auch Murgänge sind wahrscheinlicher, wenn ein Bach viel Sediment führt.
Wie darf man sich deine Forschung in der Praxis vorstellen? Mit welchen Tools arbeitet ihr?
Wir arbeiten vor allem mit einer ziemlich simplen Radarantenne, die wir am Rucksack befestigen und stundenlang im Zickzack über den Gletscher tragen, im Abstand von zwei Metern. Das erzeugt ein sehr engmaschiges Datennetz. Durch die Reflektion des Signals lässt sich sagen, ob Luft, Eis oder Wasser unter der Oberfläche sind. Die Präzision ist nicht sehr hoch, etwa im Dezimeter-Bereich, aber das reicht, um zu sehen, ob es Kanäle gibt oder nicht.
Wie tief könnt ihr dabei sehen?
In den Alpen hat das Eis sehr viel Wasser, anders als z. B. in der Antarktis. Das nimmt viel Energie aus dem Radarsignal. Es wäre natürlich toll, auch Kanäle in 200 oder 300 Metern Tiefe sehen zu können, aber das leisten die Antennen noch nicht. Auch beim Otemmagletscher haben wir hauptsächlich im unteren Teil der Gletscherzunge gemessen, wo das Eis ca. 50 Meter dick ist.
Was sagen die Kanäle unter einem Gletscher aus?
Uns interessiert vor allem die Hydraulik: Wie schnell fliesst das Wasser, wie hoch ist der Wasserdruck? Ein grosser Kanal hat mehr Fliesskraft als mehrere kleine, er kann mehr Gelände erodieren. Vom Wasserdruck in diesen Kanälen hängt z. B. auch ab, wie schnell sich die Auslassgletscher auf Grönland oder in der Antarktis bewegen. Wenn sie durch die Wasserkanäle gut «geschmiert» sind, dann bewegen sich die Eisschilde schneller ins Meer, wo sie schmelzen und den Meeresspiegel ansteigen lassen.
Wie ein Kugellager?
Eher wie eine Hydraulikpresse. Teilweise kann der Gletscher sogar durch den Wasserdruck angehoben werden. Zumindest für Stunden oder wenige Tage. Bei solchen Events fliesst das Eis kurzzeitig sehr schnell, bis sich das Wasser wieder einen Weg sucht und der Druck abnimmt.
Gibt es eigentlich noch Alpengletscher, die nicht überwacht werden?
Alle Gletscher, die in der Nähe einer Siedlung sind, sind ziemlich gut überwacht. Als zum Beispiel in Saas-Fee ein Abbruch am Weissmies drohte, hat man den Gletscher umgehend mit Lasertechnik überwacht. Aber es gibt über 1400 Gletscher in der Schweiz, die kann man nicht alle überwachen. Und man kann nicht alles zu 100 Prozent wissen. Vor zwei Jahren gab es eine Flutwelle in Zermatt, als eine kleine Wassertasche an einem Gletscher gebrochen ist. Die können sich auch sehr schnell bilden. Da war schon Glück dabei, dass es nur kleine Überschwemmungen gab.
Welche Überraschungen gab es bei eurer Feldarbeit?
Wir haben zur Vermessung der Eisdynamik auch immer wieder hochaufgelöste Drohnenbilder von den Gletschern gemacht. Dann ist ein grosser Kanal zusammengebrochen, auf 50 Metern Länge. Das Eis war sehr dünn, es geriet Luft hinein, und dann ist das Eis von innen heraus geschmolzen. Die Blöcke fallen mitten im Gletscher nach unten und werden vom Bach herausgeschwemmt. Das wird in die Rückzugsraten noch nicht wirklich einberechnet. Durch unsere täglichen Fotos und Höhenmodelle vorher und nachher können wir jetzt, quasi als Nebenprodukt, einen Artikel über dieses Phänomen schreiben.
Science-Fiction-Frage: Wann können Bergsteiger auf dem Handy in Echtzeit sehen, wo sich Gletscherspalten befinden?
Puh, Stand heute ist das schwer vorstellbar. Für oberflächlich sichtbare Spalten müsste man ca. alle fünf Tage neue Luftbilder erstellen, um mit der Eisbewegung Schritt zu halten. Aber dann gibt es ja auch noch unsichtbare Spalten, und da wird es extrem aufwendig. Es wird rein finanziell niemand daran interessiert sein, pausenlos Helis mit entsprechenden Radar-Systemen fliegen zu lassen.
Abgesehen von den Kosten: Wäre es moralisch nicht schade um das Abenteuer, wenn man jede Spalte live kartieren könnte?
Das finde ich auch. Es ist manchmal schade, alles zu wissen und unterwegs auf keinerlei Überraschungen mehr zu stossen. Eigentlich geht man ja in die Berge, um der normalen Welt zu entfliehen. Selbst GPS-Daten nehmen da schon ein Stück weit das Abenteuer weg. Wir haben im April die Haute Route von Chamonix nach Zermatt gemacht, da sind wir durch die Nacht gelaufen und hatten keinen gpx-Track dabei. Da ist dann trotzdem alles noch geheimnisvoll, und wir haben uns gelegentlich verlaufen. Aber wer weiss, vielleicht kann man in zehn Jahren per Augmented-Reality-Brille sehen, wo jemand fünf Tage zuvor entlanggegangen ist.
Apropos Haute Route: Kommen wir mal zum Sportlichen. Du verschweigst galant, dass ihr die gesamte Tour in unter 18 Stunden gelaufen seid. Und die 1000 Höhenmeter läufst du in knapp über 32 Minuten …
… 32:20 oder so, ja.
Ein Kilian Jornet ist nur unwesentlich schneller und trainiert dafür 1200 bis 1400 Stunden pro Jahr. Wie kannst du das mit deiner Arbeit als Forscher vereinbaren?
Das frage ich mich auch! Manchmal halte ich es für eine ziemlich dumme Idee, in beiden Sachen gut sein zu wollen – so werde ich nirgends bei den Besten sein. Natürlich trainiere ich weniger als Kilian, offenbar nicht mal die Hälfte. Aber bei kürzeren Rennen kann man auch mit nur zwei Trainingsstunden am Tag sehr viel rausholen. Das grosse Problem ist die Erholung. Es liegt zeitlich drin, hart zu trainieren, sogar drei Stunden am Tag, und trotzdem 100 Prozent zu arbeiten. Aber danach ist man einfach nicht erholt und macht keine Fortschritte.
2018 hast du immerhin den World Cup im Skyrunning gewonnen!
Stimmt. Damals war ich mehrere Wochen auf dem Gletscher für die Feldarbeit, war auf einer Konferenz, habe viel im Büro gearbeitet – und trotzdem war ich sportlich ziemlich erfolgreich. Aber da war auch Glück dabei, ich konnte im Winter zuvor gut trainieren und hatte noch nicht den Arbeitsdruck wie jetzt, wo ich am Ende des Doktorats wirklich abschliessen muss. Es klappt nicht immer so gut, wie es von aussen ausschaut. Man muss einfach sehr effizient sein im Alltag!
Das hört sich an, als könntest du weder das eine noch das andere aufgeben.
Im Büro komme ich mir mit meinen 80 Prozent manchmal schlecht vor, wenn alle anderen 150 Prozent dafür geben, die besten Forscher der Welt zu sein. Und im Sport ist es dasselbe. Die Leute in der Golden Trail Series machen fast nur Sport, nichts anderes. Wie soll ich gegen die eine Chance haben, wenn ich trotzdem 40 Stunden die Woche im Büro bin? Aber ich finde es auch cool, in zwei verschiedenen Welten zu sein. Einerseits die Nerds, die mit voller Passion dabei sind. Der Sinn meiner Arbeit, am Klimawandel zu forschen oder vor konkreten Gefahren zu warnen. Andererseits der Sport, wo es natürlich auch extrem passioniert zugeht. Aber nur Sportler zu sein, sich nur mit Resultaten zu befriedigen, da fehlt mir etwas. Wenn es beim Sport nicht so gut läuft, habe ich noch meine Wissenschaft – und umgekehrt. Ich sehe mich jedenfalls hauptberuflich weder komplett als Wissenschaflter noch als Profisportler.
Kannst du deine Feldforschung in irgendeiner Form als Training verwenden?
Am Gletscher campieren wir immerhin auf 2400 Metern, das ist schon mal eine gute Höhenanpassung. Abgesehen davon ist es schwierig. Wenn man gerade nicht am Messen ist, lädt man Geräte auf oder kocht. Dann hast du vielleicht noch am Abend oder morgens eine Dreiviertelstunde Zeit, um irgendwo schnell den Berg hochzurennen. Immerhin geht man bei der Arbeit relativ viel, da kommen ein paar Schritte in der Höhe zusammen. Das ist auch noch etwas Grundlagentraining und viel besser, als den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen.
Aktive Erholung?
Sozusagen. 2018 war ich mal am Gletscher und bin nur kurz runter, um Sierre-Zinal zu laufen. Das ist ein sehr schnelles Rennen, wenn du da von zehn Stunden am Tag langsam herumwandern kommst, das fühlt sich komisch an. (Anm d. Red.: Egli wurde in diesem Rennen 21. und war mit einer Zeit von 2h 44min 25s der drittschnellste Schweizer.)
Was sagen deine Forscherkollegen, wenn du morgens vor den Messungen noch irgendwo hochrennst?
Ich bin da schon eher der Freak. Die Kollegen freuen sich eher mal über eine Pause oder schwimmen im See, wenn ich irgendwo hochlaufe. Aber gut, die kennen das mittlerweile.
Kannst du beim Sport die Wissenschaftsbrille ablegen, oder scannst du als Morphologe ständig die Landschaft?
Tatsächlich tue ich das immer mehr, aber eher beim Training als bei Rennen. Es ist schon cool, es gibt mir ein bisschen das Gefühl, mehr zu sehen als andere, wenn ich auf kleine Landschaftsdetails aufmerksam werde.
Wie verträgt sich deine Umweltforschung mit den vielen Reisen zu Rennen rund um die Welt?
Ich muss zugeben, dass ich sehr gerne reise. Ich kompensiere zwar die Flüge, aber jeder weiss, dass das nicht die Lösung ist, denn die Emissionen sind ja in der Welt. Aber ich versuche, mich zu beschränken. Dieses Jahr bin ich für ein Rennen nach La Palma geflogen, und, falls ich mich für die WM qualifiziere, fliege ich noch nach Thailand, das war´s. Man darf aber nicht nur auf die Flüge schauen. Auch der Bau, die Fleischproduktion, der Pkw-Verkehr stossen viel CO2 aus. Ich esse v. a. vegetarisch, fahre mit dem Rad oder dem Zug zur Arbeit, habe Dämmung und Heizung zu Hause auf den neuesten Stand gebracht. Seit Kurzem habe ich ein Elektroauto, was zumindest in der Schweiz mit der relativ sauberen Wasserkraft schon Sinn macht. Aber ich würde nie sagen, dass ich heilig bin. Übrigens ist gar nicht nur der Sport das Problem. Da warnen die Forscher vor dem Klimawandel, fliegen aber selbst zum Teil viel. Aber auch das ändert sich gerade. Unser Institut hat eine Umweltcharta. Wenn eine Konferenz binnen acht Stunden mit dem Zug erreicht werden kann, dann wird nur die Zugreise vergütet.
Was sagst du zum Ergebnis des CO2-Entscheids in der Schweiz?
Das war schon eine Enttäuschung. Obwohl das Gesetz jetzt nicht durchging, glaube ich schon, dass es Massnahmen geben wird. Es wird sich zum Besseren wenden, vielleicht nicht so schnell, wie wir wollen. Man hat manchmal das Gefühl, dass viele Leute gerne von Einsparungen reden, aber nur, solange es nicht ums Geld geht. Eine andere typische Haltung: Wir tun doch sowieso schon so viel mit unserer sauberen Energie, jetzt sind andere Länder wie China oder die USA mit ihren Kohlekraftwerken dran. Das ist schon nicht ganz falsch. Aber wir sind halt auch ein reiches Land, und dadurch konsumieren wir automatisch auch viel. Das treibt die Emissionen nach oben.
Ist es in einer solchen Diskussionskultur schwer, als Wissenschaftler seine Stimme zu erheben und für Verzicht zu plädieren?
Früher haben Wissenschaftler oft nur die Daten abgeliefert, ohne Handlungsanweisungen. Aber das ist falsch, so passiert nie etwas. Wir müssen schon sagen, in welche Richtung wir beim Klimawandel handeln müssen. Wir könnten jetzt innovative Technologien und Start-ups fördern, z. B. bessere Heizsysteme, effizientere Photovoltaik, «Carbon Capture and Storage», wie es die Schweizer Firma climeworks macht. Man müsste viel mehr die Chancen betonen, nicht den Verzicht: Dass weniger Fleisch nicht nur gut fürs Klima ist, sondern auch gesünder. Oder dass eine Wärmepumpe nicht nur fossile Energie spart, sondern auch Kosten. Positiv reden hilft am meisten! Das ist viel besser, als jemanden für sein grosses Auto oder seine Flugreisen zu verurteilen.
Du arbeitest gelegentlich auch bei Egli Engineering, der Firma deines Vaters, die auf Hochwasserschutz spezialisiert ist. Werden die Katastrophenfälle in Zukunft häufiger?
Erst neulich habe ich ein Paper gelesen, das belegt, dass durch die Klimaerwärmung langsam ziehende Wetterevents mit sehr hohen Niederschlägen bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 14 mal häufiger werden. Insofern sind z. B. die vielen Opfer bei den Juli-Hochwassern in Deutschland wirklich tragisch, das Paper kam nur zwei oder drei Wochen vorher raus. Und ja: Die Statistiken ändern sich. Was früher ein Jahrhundertevent war, ist heute vielleicht ein 20-jähriges Event. Dafür braucht es zwar noch etwas längere Datenreihen, aber die Klimasimulationen zeigen das ganz klar, das ist schon etwas beängstigend. Da müssen wir uns besser anpassen, denn einen Teil der Erwärmung können wir ohnehin nicht mehr rückgängig machen. Es wird sehr trockene Sommer geben, es wird Sommer mit Flutevents geben, oder vielleicht sogar beides im gleichen Sommer. Die Ausschläge werden intensiver.
Was ist deine Prognose für den Bergsport? Welche Gefahren wird uns die Klimaerwärmung dort bescheren?
Auf jeden Fall wird sich die Saisonalität ändern. Hochtouren wie der Cosmiques-Grat oder die Eigernordwand werden nicht mehr wie früher im Juli oder August gemacht, sondern im Juni, Mai oder April. Dann hat es noch genügend Schnee drin, die Eis- und Felssturzgefahr ist geringer. Und dann der Gletscherrückgang: Laut den gängigen Klimaprognosen verschwinden die meisten Alpengletscher bis Ende des Jahrhunderts. Das verändert das Hochgebirge natürlich fundamental. Der Zugang zu den Gletschern wird schwieriger. Die Moränen werden steiler, es gibt mehr Gletscherspalten. Und im Winter wird es öfter sehr hoch regnen, auch über 2000 Metern. Damit wird die Gefahr von Nassschneelawinen zunehmen.
Abschliessend: Was hältst du davon, dass Skibergsteigen olympisch wird?
Naja, gegenüber Olympia generell bin ich skeptisch. Aber für den Skitourensport ist es schon eine grosse Chance. Ich sehe zwei Seiten: Einerseits ist es gut für den Sport, es gibt mehr Geld, man könnte als professioneller Athlet davon leben. Andererseits kann es auch sein, dass sich der Sport verändert, wenn er so ausgetragen wird, dass er beim Publikum gut ankommt. Aber ich glaube, selbst wenn das passiert, dann gibt es immer noch die coolen Rennen wie die «Mezzalama». Mal schauen!
Hast du selbst noch Ambitionen auf Mailand 2026?
Ich überlege tatsächlich. Eher im Vertical als im Individual, weil ich bergab nicht bei den Besten bin. Wenn ich jetzt noch vier Jahre gut trainiere, wäre es vielleicht möglich. Aber sicher gibt es bis dahin schon viele junge Läufer, die viel stärker sind als ich.
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