Die Via Alta Vallemaggia ist ein sechs Tage dauernder Balanceakt über einen schroffen Gebirgsreigen. 1'000 Meter über dem Maggiatal wartet auf trittsichere Wanderer ein Abenteuer, das sie so schnell nicht vergessen. Als Krönung lockt eine Outdoor-Badewanne mit Blick auf Monte Rosa und Lago Maggiore.
Ein Labyrinth aus Steinen. Wir kommen nur langsam vorwärts. Fünfzig Kilometer in sechs Tagen klingt nicht besonders respekteinflössend. Ist es aber. Rippen, Runsen, Geröllfelder, Kämme. Hinter jeder Biegung tun sich neue Perspektiven auf. Arenen, in die sich Seen oder Moore betten. Grate, die Weitblick zu den Gletschern von Monte Rosa und Basòdino schenken, und später immer mal wieder auch zur Riviera des Lago Maggiore. Farbkleckse geben die ideale Linie durch das Felsgerippe an. Man fühlt sich wie ein kleiner Zwerg – der langsam müde wird und froh ist, endlich den Stall zu erblicken. Die Capanna Sovèltra, die erste Hütte auf der Via Alta Vallemaggia. Später am Abend wird man dort vielleicht den Bildband von Bruno Donati durchblättern und ihm Recht geben, wenn er schreibt: «Der Via Alta zu folgen, kommt dem sich Fortbewegen auf dem Rücken eines grossen Dinosauriers gleich, der seinen Schwanz im Lago Maggiore badet und den Kopf zum Kamm der Alpen erhebt. Ein von Schuppen bedecktes Rückgrat, dessen einzelne Wirbel noch zu erkennen sind.»
HOHE KOCHKUNST AUF 1'500 METERN
Vor 50 Jahren tummelten sich an der Capanna Sovèltra noch hundert Kühe, dreihundert Ziegen und etwa zwanzig Schweine. Dass sie früher ein Stall war, sieht man. Die historische Substanz blieb beim Umbau erhalten. Vielleicht fühlt man sich deshalb so wohl. Archaische Gemütlichkeit. Im Herzen der Stube flackert ein offener Kamin, um den sich die Tische gruppieren. Unter dem Holzgebälk im Obergeschoss befindet sich das kleine Schlaflager mit den kuscheligen Duvets. All dies verdankt sich dem Engagement der Einheimischen, die hier freiwillig retteten, was sonst verfallen wäre. Auch die Bewirtung ist ehrenamtlich, jede Woche wechselt der Hüttendienst. Diesmal ist Gertrud dran. Ihre Fröhlichkeit wirkt ansteckend und spiegelt sich auch in ihrer Kochkunst. Gänseblümchen und Thymianzweige zieren den Ziegenfrischkäse, der auf der Zunge zerschmilzt. Cremige Kürbissuppe, knusprige Bratkartoffeln mit Brasato und Gemüse. Pannacotta an Heidelbeersosse, deren Früchte vor ein paar Stunden noch an Zweiglein hingen, rundet die Schlemmerei ab. Später vielleicht ein «Absacker» auf der Terrasse im Banne Abertausender glitzernder Sterne und der Silhouette des Campo Tencia, des mit 3071 Metern höchsten Tessiner Bergs.
ANSPRUCHSVOLLE GRATWANDERUNG
Der Abschied von der Komforthütte fällt schwer. Harte Tage werden folgen. Waren wir auf der ersten Etappe von Fusio aus noch im weiss-rot-weissen Wandermodus unterwegs, führt bereits die zweite Etappe durch alpines Terrain. Weiss-blau-weisse Spurensuche lautet das Tagesprogramm, denn die Geröllhalden der Corona di Redorta geben keinem Weg Bestand. Wolken wabern und lassen den Basòdino nur für kurze Momente einer Fata Morgana gleich auftauchen. Kleine Zitterpartie beim Abstieg steiler Grasflanken, denn der Nebel macht sie nass und damit rutschig. Die Via Alta Vallemaggia ist kein Weg für Zimperliche. Mal balanciert sie direkt auf dem Grat, der das Maggia- vom Verzascatal trennt, mal durch die dem Maggiatal zugewandten Flanken und Hochtäler auf einer Höhe von rund 2000 Metern. Ein exponierter Weg, immer wieder gibt es leichte Kletterstellen, steile Couloirs, viele Schutt- und Blockfelder, unzählige Aufund Abstiege. Das raubt Energie. Nicht jeder hält durch und muss sich unterwegs für den Abstieg entscheiden. Zwei der sechs Etappenunterkünfte sind Selbstversorgerhütten. Egal, wie erschöpft man ankommt – hier muss man zuerst selber kochen. Aber eben gerade weil die Route Abenteuer verspricht, ist sie gefragt. Erst im Sommer 2010 eingeweiht, reicht ihr Ruf schon weit. Es scheint, je künstlicher unsere Welt wird, umso stärker wird das elementare Gegenstück gesucht. In wilder Natur auf sich selbst gestellt zu sein, wäscht den Geist rein, lässt wieder freier atmen und denken. Entsagen öffnet die Augen für das Wesentliche.
Kammwandern zwischen Passo Nimi und Madone.
ALPEN WERDEN ZU WANDERHERBERGEN
Solche Gedanken lagen den Bergbauern von damals fern, die hier ums Überleben kämpften. Weit mussten sie in die unwirtlichen Höhen hinaufsteigen, um noch die letzten Grashälmchen für ihre Ziegen zu finden. Tempi Passati. Die meisten Alpen sind längst aufgegeben, viele Rustici sind zu Ferienhäusern umfunktioniert. Weise gehandelt hat das Patriziato di Prato mit dem Ausbau der Capanna Sovèltra 1997. Jahre später zogen die Gemeinden Giumaglio und Maggia nach. Sie restaurierten die seit Langem leerstehenden Steinhäuser der Alpe Spluga und der Alpe Masnée, richteten darin Wanderherbergen ein und schufen damit die Voraussetzung zur Realisierung der Via Alta Vallemaggia. Auch das Rifugio Tomeo, Stützpunkt der zweiten Etappe, erfuhr jüngst einen Ausbau. Efrem Foresti, der Verantwortliche, begrüsst uns herzlich. Scheinbar müssen wir einen ausgezehrten Eindruck machen, denn prompt steht ein Teller mit Häppchen aus würziger Salami und Bergkäse vor uns. Später, bei einer sämigen Polenta, erzählt uns Efrem von den Anfängen. Als Schreiner aus Prato im Talgrund hatte er beim Ausbau der Capanna Sovèltra zu tun. Dabei kam ihm die Idee einer Via Alta. Unermüdlich kundschaftete er das Gelände aus, suchte alte Pfade und Übergänge, Gleichgesinnte und Sponsoren. Heute ist er Präsident der Associazione Via Alta Vallemaggia und glücklich, dass der Weg das Erbe seiner Vorfahren wieder belebt. Die Mitglieder der Vereinigung lassen es sich nicht nehmen, die Via Alta jeden Sommer selbst unter die Haxen zu nehmen. Das nennt man Passion.
VOM BANKER ZUM ZIEGENBAUER
Über leichte Kletterpassagen geht es am nächsten Morgen aus dem eindrücklichen Felsenkessel des Lago di Tomeo in aussichtsreiche Höhen hinauf. Verwunschene Terrassen, immer mal wieder eine verlassene Steinhütte.
«Der Via Alta zu folgen kommt dem sich Fortbewegen auf dem Rücken eines grossen Dinosauriers gleich, der seinen Schwanz im Lago Maggiore badet und den Kopf zum Kamm der Alpen erhebt.» BRUNO DONATI
Man fühlt sich allein auf der Welt. Irgendwann aber zehren die Blockfeldpassagen, die Steilpartien, das Hinauf und Hinunter. Ein letzter Übergang? Nein, es kommt noch einer. An der Bocchetta del Sasso Bello liegt endlich die Alpe di Spluga zu Füssen. Traumhaft schön die lieblichen Moortümpel in einem Mosaik mäandernder Bächlein und watteweicher Grasteppiche. Noch versteckt sich die Alpsiedlung hinter einem Buckel, taucht dann ganz unmittelbar auf, wenn man schon fast davorsteht. Eine stattliche Anzahl granitgedeckter Steinhäuser in einer Reihe, als ob jedes den Lago-Maggiore-Blick gesondert geniessen wolle. In einem Haus die Küche, in anderen die Schlaflager, sodass man sich nirgends in die Quere kommt. In einer Vorratskammer befinden sich Lebensmittel und ein Getränkesortiment, das keine Wünsche offenlässt. Daneben ein Bad mit heisser Dusche! So viel Engagement an freiwilliger Fronarbeit will geschätzt werden. Es ist selbstverständlich, dass wir das Refugium sauber hinterlassen und den Obolus in die Kasse zahlen. Gleiches gilt für das nächste Etappenziel, die Alpe Masnée. Am liebsten wollte man länger bleiben, die Seele baumeln lassen. Welch harte Arbeit hinter der Bewirtschaftung einer Alp steckt, darf man dann auf der Alpe Nimi erfahren. Dazu braucht es wohl die Art eines Pietro Zanoli, der trotz der arbeitsintensiven Betreuung von über 150 Ziegen immer noch Gelassenheit ausstrahlt. Es sind lange Tage: morgens von Hand Ziegen melken, nachmittags Käse herstellen, abends die müden Wanderer betreuen. Chapeau.
Keine Frage, auf der Alpe Nimi gibt es die aufregendste Badewanne der Schweiz.
Alles Mögliche habe er schon gemacht, schmunzelt Pietro, Banker an der Zürcher Börse, Direktor eines Locarneser Campingplatzes, Skilehrer, Animateur bei Club Med. Als sein Onkel aber aus Altersgründen die Alpe Nimi nicht mehr führen konnte, wollte er nicht zusehen, wie alles verfällt, und schlüpfte kurzerhand in die Rolle des «Geissenpeters». Hartgesottene schätzen seine Open-Air-Badewanne. Klirrend kalt das Wasser, aber nach einer schweisstreibenden Etappe genau die richtige Erfrischung. Wo lässt sich schon baden mit Blick auf Lago Maggiore und Monte Rosa? Das ist einzigartig. Auch wenn die Wollsäue die Klamotten klauen wollen. Meist aber liegen sie in ihren selbst gegrabenen Schlammbädern und grunzen zufrieden. Margaret Thatcher, die alte fette, Marilyn Monroe, die kleinere hübschere, und der Eber John F. Kennedy. Jedem seiner Tiere hat Pietro einen prominenten Namen verliehen. Anderntags auf der Cimetta, dem letzten Zacken der kühnen Kammroute, verzehren wir Pietros Ziegenkäse. Der Osthang scheint direkt in den Lago Maggiore zu fallen. Der Schwanz des Dinosauriers. Unten pulsiert das Leben. Doch das wahre findet hier oben statt.
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