Der Taxifahrer in Nizza schüttelt den Kopf. Immer wieder. Schweizer mit Tourenski an der Côte d’Azur – nein, so etwas sieht er nicht alle Tage. Er versteht unseren Plan nicht, ist aber einverstanden, einen Umweg zu fahren für dieses eine Foto: wir mit Ski am Meer. Minuten später stehen wir am perfekten «Kodak Point» und posieren vor der Weite des Mittelmeers. Den Geruch von Salz in der Nase, Sand unter den Füssen, während die kühle Morgenbrise durch die nahen Palmen streicht.
Es ist der Auftakt einer langen Geschichte. Einer Geschichte, der sich die Bergsportschule bergpunkt seit 2014 widmet: gemeinsam mit ihren Gästen die 1200 Kilometer der Alpen, von Nizza bis Wien, per Tourenski zu durchqueren. Stück für Stück, auf mehreren Tourenwochen pro Jahr – jeweils im Süden des Alpenbogens, in der Schweiz und im tiefen Osten. Es ist ein Projekt, während dem wir Skitourer angesichts der Wucht und Weite der Alpen immer wieder ganz klein werden. Die Seealpen – auch Alpi Marittime oder Alpes Océanes genannt – führen es uns gleich auf der ersten Tourenwoche vor: Als wären die Berge gestern erst dem Meer entstiegen, umtost uns ein Sturm wie auf hoher See, der ihre Türme und Zacken zu Siebentausendern im Kleinformat werden lässt. Die Kapuzen tief in die Stirn gezogen, den Blick auf unsere Skispitzen gerichtet, gehen wir zwei Tage lang voran, bevor es wieder aufklart.
Momente wie diese sind es, die Transalp-Gruppen in kurzer Zeit zu verschworenen Truppen schmieden. Egal, ob im Süden, im Osten oder in den Schweizer Alpen. Unglaublich sei die Stimmung auch auf der ersten Etappe der TransalpSchweiz gewesen, sagt Bergführer Thomas Theurillat, der die Woche leitete. «Die Tage zwischen Chamonix und dem Saastal waren weit mehr als eine Tourenwoche.» Man habe Freundschaften geschlossen, einen Verein namens «Pässli&Gipfel» gegründet und Transalp-Shirts drucken lassen. Wer Thomas zuhört, der es als Psychologe wissen muss, der merkt: So viel Freude in einer Gruppe erlebt auch er nicht alle Tage.
VOM BERGBEIZLI ZUR JAUSENSTATION
Transalp ist irgendwie anders. Vielleicht, weil das Tourengehen vertraut und das Erlebnis doch ein anderes ist. Allein die Sprachen! Etwa, wenn das Bergbeizli im österreichischen Stubai auf einmal «Jausenstation» heisst und wir auf der Terrasse in der Nachmittagssonne Johannisschorle und Topfenstrudel bestellen. Oder wenn wir in den Cottischen Alpen durch ein Grenzland ziehen, in dem sich Italien und Frankreich vermischen, und das vor allem eines ist: ein Teil von Okzitanien. Jenem provenzalischen Kulturraum, der die Alpen mit Südfrankreich und den Pyrenäen verbindet. Mit den Cottischen Alpen durchqueren wir die vielleicht einsamsten Gebiete des Alpenbogens. Während der Monviso als perfekte Pyramide wie ein Fixstern aufragt – erst vor uns, neben uns, dann in unserem Rücken –, steigen wir auf Gipfel, überqueren Pässe, passieren Berge – klein und wild, zackig und steil, und entdecken jeden Tag eine neue Welt. Mal das italienische Val Pellice mit seinen Städtchen, Plätzen und Cafés. Mal das Rifugio Willy Jervis, dessen warme Stube wir nach einem langen Tag im Schein der Stirnlampen unter einem Sternenhimmel erreichen. Ein anderes Mal ziehen wir die Ski im Dorf Le Roux im französischen Queyras aus, wo wir den Nachmittag bei Kaffee und Mousse au Chocolat auf einem Canapé vor dem Schwedenofen verbringen. Bis irgendwann nicht nur wir die Täler und Dörfer entdecken, sondern selbst zu einer Entdeckung werden. Einheimische bitten uns im Val Germanasca um ein Gruppenfoto, ein Gemeindemitarbeiter telefoniert ins nächste Tal, um beim Kollegen nachzufragen, wie dicht die Erlenstauden auf seiner Seite wucherten. Skitourengeher, so erklären uns die Locals, hätten sie auf diesem Passübergang noch nie gesehen. Und so beugen wir uns an diesem Abend noch tiefer als sonst über die Karten, fahren mit unseren Zeigefingern Flanken, Lichtungen und Forststrassen entlang, die uns einen Durchschlupf ins Nachbartal bieten könnten.
MUSTAFAS SCHWIMMBRILLE
Manchmal geht der Plan auf. Manchmal auch nicht, etwa dann, wenn ein Übergang steil und die Lawinensituation heikel ist. Oder die Sonne viel zu warm in Nassschneehänge brennt. Oder wenn für eine ganze Woche für ein bestimmtes Gebiet nur Sturm und Schnee angesagt sind. Wie 2017 im Zillertal, als die Transalp im Osten kurzerhand zum italienischen Gran Paradiso verlegt wurde. Gestört hat dies am Ende keinen. «Das Zillertal haben wir rasch vergessen», sagt Roberto Moro, der jedes Jahr auf der Transalp unterwegs ist. «Diese Runde um den höchsten Binnengipfel Italiens wollte ich seit Langem unternehmen. » Bei der Transalp geht es eben nicht nur um Pässe und Gipfel, sondern auch darum: den Alpenbogen zu entdecken – mit offenen Augen und offenem Geist. So wie auch wir im vergangenen Frühjahr. Vom Val di Rhêmes, unweit von Aosta, wollen wir bis nach Chamonix ziehen. Doch Fehlanzeige. Der Wetterbericht verspricht während fünf Tagen Neuschnee und null Stunden Sonne. Wir versuchen es dennoch und staunen: Als wir im Refuge de Fond, zuhinterst im Val di Rhêmes, ankommen, scheint die Sonne. Nicht draussen indes, aber in der Stube: In der Tür begrüsst uns Mustafa mit einem strahlenden Lachen und einem «bienvenue, les amis de la montagne!». Mustafa aus Marokko – genauer: aus der Küstenstadt Rabat – bittet uns gleich in die Küche und serviert uns Tee und Geschichten. Ob es in Rabat Berge gebe, wollen wir von ihm wissen. Er lacht. «Non! Dort gibt es Strände!» Ein Schock seien der erste Schnee und ein Tag mit minus 27 Grad Celsius im Refuge de Fond gewesen. «Aber jetzt ist Mustafa auf alles vorbereitet», sagt er von sich selbst. Deutet auf die Zipfelmütze auf seinem Kopf und die Daunenjacke, die in der Küche an der Wand hängt. Daneben baumeln eine Skibrille und eine Schwimmbrille an einem Holzgestell. «Die brauche ich im Schneetreiben.» Tags darauf bräuchten auch wir Schwimmbrillen. Denn beim Versuch, den Col Bassac Derè zu erreichen, geraten wir in eine Waschmaschine aus Schnee und Wind. Zwei, drei Stunden gehen wir weiter, bis es keinen Sinn mehr macht: Wir kehren um und fahren – oder besser: spuren im knietiefen Neuschnee – zurück zum Refuge und talauswärts, von wo wir am Vortag gekommen sind. Drei Stunden dauert es, dann sind wir wieder auf Feld eins. Die Südstaulage vertreibt uns aus dem Paradies. Am nächsten Morgen steigen wir ins Taxi und fahren nordwärts mit dem Ziel, die westlichen Berner Alpen von den Diablerets bis zum Wildstrubel zu durchqueren. Denn dort sind der Himmel blau, die Berge genauso schön und der Wind …
SIMMENTAL STATT CHAMONIX
Als wir bei der Seilbahn von Les Diablerets stehen, fährt diese längst nicht mehr. «Föhnsturm», wird uns mitgeteilt. Doch – oh glückliche Fügung! – gibt es von Gsteig auf den Sanetschpass auch eine winzige Seilbahn, ursprünglich errichtet für den Bau des Stausees. Und die, so erfahren wir, trotzt bislang dem Sturm. Wenn wir «em e chli gäh» und in einer Stunde bei ihm seien, würde er uns hochfahren lassen, sagt der Betreiber am Telefon. «Wil mit em Windprogramm» sei das gar kein Problem. «Kriminös wird's de ersch abemne Sächzger». – Eine gute Stunde später schaukeln wir bergwärts. Die Seilbahn übersteht es. Wir auch. Was danach kommt, ist das Glück der Tüchtigen: vier Tage, während denen wir zu winzigen Punkten in Weiten aus Schnee werden, über Pässe ziehen, auf Gipfel steigen, anfellen, abfellen, Gipfelküsse verteilen, an der Sonne sitzen, durch Sulz schwingen und in warmen Holzstuben die Stunden verplaudern. Gältelücke, Geltenhütte, Wildhorn, Wildhornhütte, Schnidehore, Rohrbachstein, Wildstrubelhütte, Glacier de la Plaine Morte und Wildstrubel heissen unsere Stationen. Und wenngleich wir unsere Route im Süden verlassen haben, so ist der Geist der Transalp doch da. Dass wir am Ende der Woche ins Simmental anstatt nach Chamonix schwingen, nehmen wir gelassen. Abenteuer sind eben nicht planbar. Und ein Abenteuer ist die Transalp bis heute geblieben. Wer sich darauf einlässt, der findet die Abfahrt vom Wildstrubel durch das Ammertentäli bis in die Lenk mindestens so cool wie das Vallée Blanche!
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